Ein Roman darüber, was mit dem Leben und mit der Liebe passiert, wenn sie der Obsession eines Eindringlings ausgesetzt werden. Ein aufwühlender Roman, der zwischen den hellen und den dunklen Seiten der Liebe oszilliert, bis die Nerven reissen.
Warum habe ich bisher von diesem fantastischen Schriftsteller noch nie etwas gehört, geschweige denn gelesen? Zufällig bin ich auf den britischen Schriftsteller Ian McEwan gestossen und habe seinen Roman «Liebeswahn» in einem Zug durchgelesen.
Wie immer will ich die Geschichte hier nicht nacherzählen, wie es oft bei Rezensionen der Fall ist. Oder nur so viel wie nötig, um meinen Ausführungen folgen zu können. Viel mehr will ich beschreiben, warum ich dieses Buch so spannend, so gut und so empfehlenswert finde. Formulierungen wie «brillant geschrieben» oder «Meister der Erzählkunst» versuche ich zu vermeiden, weil sie wie Floskeln nicht viel aussagen.
Die Geschichte beginnt mit einem fulminanten Ereignis, was automatisch dazu führt, dass man wissen will, wie die Geschichte weitergeht. Joe und Clarissa haben an einem sonnigen Tag ein romantisches Picknick im Grünen geplant. Als sie auf der Wiese sitzen und gerade eine Flasche Wein öffnen wollen, beobachten sie einen Heißluftballon, der offensichtlich in Schwierigkeiten steckt. Joe eilt zu Hilfe, doch während sich ein Passagier rechtzeitig aus der Gondel retten kann, stürzt eine Person bei der Rettungsaktion in den Tod. Geplagt von Schuldgefühlen und Vorwürfen versucht Joe das Geschehene zu verarbeiten.
Dieser Beginn mit dem Ballonunglück hat den Vorteil, ein Ereignis zu haben, das sich lohnt zu erzählen. Oder noch viel mehr, ein Ereignis, das erzählt werden will. Das Aussergewöhnliche und Unerwartete hat mehr Berechtigung erzählt zu werden als das Alltägliche und Erwartbare. Dadurch wirkt die Erzählung weniger konstruiert, was sie natürlich ist, weil jede Erzählung eine Konstruktion von Gedanken ist. Ein weiterer Vorteil dieses Beginns ist, dass verschiedene Menschen, die sich eigentlich fremd sind, in einer aussergewöhnlichen Situation begegnen und gezwungenermassen in Kontakt treten. So trifft Joe auf den Mithelfer Jed, der ihn in der Folge nicht mehr in Ruhe lässt und zum aufdringlichen Stalker wird.
Die Geschichte wird aus der Sicht von Joe erzählt. Dabei lerne ich ihn immer besser kennen. Nicht nur seine Wahrnehmungen der Ereignisse, sondern auch seine Gedanken dazu. Zuerst glaube ich ihm. Erst als Clarissa, seine Frau, erste Zweifel äussert, ob er sich die Geschichte mit dem Stalker nur einbildet, kommen auch bei mir als Leser langsam Zweifel auf. Wem glaube ich, dem Protagonisten, der sich dem Stalker hilflos ausgeliefert fühlt oder seiner Frau Clarissa, die befürchtet, dass ihr Mann verrückt geworden ist und sich die Geschichte mit dem Erotomanen selber ausdenkt, aber für wahr hält? Das Abwägen dieser beiden Betrachtungsweisen macht über lange Strecken den Reiz dieses Romans aus.
Ausschweifungen und Nebengeschichten verzögern die eigentliche Handlung, was die Spannung aber nur noch erhöht, weil ich wissen will, wie es weiter geht. Im ganzen Roman kommen unzählige kurze Geschichten und Anekdoten vor, bei denen es darum geht, ob man ihnen glaubt oder nicht. Ständig geht es um das Thema Glaube. So ist auch Jed ein sehr gläubiger Mensch, der in seinem Liebeswahn versucht Joe zu bekehren, der als rationaler Naturwissenschaftler nicht an Gott glaubt. Zu jeder Zeit wirkt das Erzählte sehr glaubwürdig, auch wenn wir beginnen daran zu zweifeln. Dennoch ist die Erzählung immer gut nachvollziehbar. Gespannt erwartet man den Fortgang und das Ende der Geschichte um zu erfahren, welche Betrachtungsweise nun stimmt oder nicht.
Ich freue mich jetzt schon darauf weitere Bücher von Ian McEwan zu lesen. Erst recht, weil «Liebeswahn» angeblich nicht einmal sein bestes sein soll. Mit dem englischen Titel «Enduring Love» wurde der Roman 2004 mit Daniel Craig in der Rolle als Joe verfilmt.
Unter Zwang
Polar aus Aachen am 26.05.2008
Bewertungsnummer: 582203
Bewertet: Buch (Taschenbuch)
Was einem so alles zustoßen kann, wenn man Gutes tun will. Joe will ein Kind aus einem Fesselballon retten und muß mit ansehen, wie einer der Retter bei der Aktion ums Leben kommt. Ein Mann spricht ihn an, fordert ihn auf, gemeinsam zu beten, und Joe sieht sich im Verlauf der Geschichte den seltsamen Nachstellung Jed Parrys ausgesetzt, der vorgibt, sich in ihn verliebt zu haben. McEwan beschreibt jedoch nicht nur den Wahn eines religiös Verwirrten, der in einer Melange aus gläubigem Sendungsbewußtsein und Liebesgefühlen das Leben eines Ehepaars durcheinander bringt, er zeigt auch wie hilflos jemand solchen Anwandlungen ausgesetzt ist, wenn dieser sich nichts zu schulden kommen läßt. Was die Liebesschwüre, dunklen Drohungen bei Joe anrichten, der absolut nicht von Parry geliebt werden möchte, wie er miterleben muss, dass ihm niemand glaubt, er beginnt, sich seiner Frau zu entfremden, ist eindringlich geschildert. Die psychologische Begründung liefert der Autor gleich mit. Bei Parrys Wahn handelt es sich um das Clérambault-Syndrom. Eine Bezeichnung für krankhafte, abgewiesene Liebe, die zur Gewalt neigt. Viel schlimmer jedoch erscheint der Umstand, wie Joe allmählich den Boden unter den Füßen verliert, alles Parry unterordnet. Es kommt sogar zum Bruch mit seiner Frau Clarissa, dem verzweifelten Versuch, sich durch den Kauf einer Pistole zu schützen. Wie sich die Katastrophe allmählich zuspitzt, zeigt einmal mehr, mit welcher Akribie McEwan es versteht, Menschen aus ihrem Alltag zu reißen. Gleich einer Schlinge zieht der Autor die fehlgeleitete Liebe um die Hauptfiguren zu. Keiner bleibt unbeschadet. Und einmal mehr schafft McEwan es, Beklemmung so spannend zu beschreiben, dass man das Ende gespannt erwartet.