Man schreibt das Jahr 1975. Der Ort: Bombay. Hier treffen vier Menschen aufeinander, deren Schicksale im Mittelpunkt des Romans stehen. Dina Dalal, eine Frau Anfang Vierzig und seit fast zwanzig Jahren verwitwet; Maneck Kohlah, ein junger Student aus dem Gebiet des Himalajas; Ishvar Darji, ein unglaublicher Optimist und sein widerspenstiger junger Neffe Omprakash - zwei Schneider, die vor den unerträglichen Verhältnissen auf dem Land in die Stadt geflohen sind. Diese vier lernen sich kennen, achten und lieben und werden doch vom Schicksal wieder auseinandergerissen.
Rohinton Mistry holt weit aus und erzählt von den Lebenswegen, die diese Menschen zu dem gemacht haben, was sie sind. Seine grossen erzählerischen Bögen führen den Leser von den grünen Tälern des Himalaja bis in die Strassen von Bombay. Er erzählt von Rajaram, dem Haarsammler; dem geschäftstüchtigen Bettlermeister, Herr über eine Bettlerarmee; oder Mr. Valmik, einem Korrekturleser, der eine Allergie gegen Druckerschwärze entwickelt.
»Lass mich ein Geheimnis verraten«, sagt Mr. Valmik zu Maneck. »So etwas wie ein uninteressantes Leben gibt es nicht.« Und dies trifft zu auf die Schicksale, die Rohinton Mistry meisterhaft miteinander verknüpft. »Das Gleichgewicht der Welt« lässt den indischen Subkontinent vor den Augen der Leser entstehen - und es ist ein gewaltiges wie auch gewaltsames Bild einer Gesellschaft, die nur auf den ersten Blick fremd erscheint.
Mikka Liest aus Hilter am Teutoburger Wald am 02.10.2016
Bewertungsnummer: 974425
Bewertet: Buch (Taschenbuch)
Zitat:
»Man muss ein feines Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung einhalten.« Er hielt inne und dachte darüber nach, was er gerade gesagt hatte. »Ja«, wiederholte er, »letztendlich ist alles eine Frage des Gleichgewichts.«
Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich in meiner Rezension zu diesem Buch schreiben könnte - diesem monumentalen Epos, das seine enorme emotionale Wucht gerade dadurch entfaltet, dass es den Blick nicht nur auf die dramatischen Ereignisse, sondern auch auf die kleinsten Dinge richtet. Die feinen Nuancen. Das Nichtgesagte. Die Zwischentöne. Mal ist das Buch ein farbenfrohes Spektakel, dann wieder eine zarte Szenerie leiser Philosophie. Manchmal war ich schockiert von der gnadenlos geschilderten Gewalt und dem Elend, dann wieder musste ich lachen, und mehr als einmal standen mir die Tränen in den Augen. Sei gewarnt, Leser: dies ist kein Buch, das beschönigt, und es ist auch kein Buch für erzwungene Happy Ends. Und dennoch ist es ein Buch, das verzaubert und bereichert.
Das Indien, dass Rohinton Mistry hier zum Leben erweckt, wirkte auch mich oft wie eine gänzlich fremde Welt, manchmal fast schon bizarr in ihrer Andersartigkeit. Aber dann stutzt man und erkennt sich auf einmal wieder in den Menschen, die diese Welt bevölkern. Denn deren Wünsche, Träume und Hoffnungen mögen zwar herzzerreißend bescheiden sein, aber dennoch vertraut.
In meinen Augen ist dem Autor nichts Geringeres gelungen, als das ureigenste Wesen des Menschen auf Papier zu bannen. Was ist Schmerz? Was ist Trauer? Was ist Ungerechtigkeit? Gerade wenn man als Leser glaubt, man könnte nicht mehr ertragen, stellen sich neue Fragen. Was ist Glück? Was ist Freundschaft? Was ist Hilfsbereitschaft? Das Gleichgewicht der Welt. Der Autor belehrt den Leser nicht, sondern lässt ihn die Antworten selber entdecken.
Im Mittelpunkt der Geschichten stehen vier Charaktere an der unsicheren Grenze zwischen Armut und vollkommener Verelendung.
Die Augen der Witwe Dina Dalal werden langsam zu schwach zum Nähen, aber ihr Stolz erlaubt es ihr nicht, ihren wohlhabenden Bruder um Hilfe zu bitten. Daher bringt sie in ihrer winzigen Wohnung nicht nur den jungen Studenten Maneck als zahlenden Gast unter, sondern richtet auch eine Werkstatt für zwei Schneider ein, die in ihrem Auftrag nähen - den optimistischen Ishvar und seinen wütenden Neffen Om. Herrscht am Anfang noch gegenseitiges Misstrauen, wächst die ungleiche Zweckgemeinschaft doch schnell zusammen zu einer Art Familie, die gemeinsam den turbulenten Zeiten trotzt.
Der Autor beschreibt seine Charaktere so lebendig und glaubhaft, dass man einfach mit ihnen mithoffen und mitleiden muss. Er zeigt an ihnen das ganze Elend der niederen Kasten, aber sie verkommen dabei nicht zu Stereotypen. Kein Charakter ist nur böse oder nur gut, egal wie extrem manche auf den ersten Blick erscheinen. Mitgefühl und Hilfe kommen oft aus der unerwartetsten Ecke, und manchmal stellt man fest, dass schreckliche Dinge nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Hilflosigkeit oder Angst geschehen.
Ich war sehr beeindruckt davon, was für ein lebendiges Bild vom Indien dieser Zeit das Buch zeichnet, von seiner Politik und seinen gesellschaftlichen Umstürzen. Man kann viel daraus lernen, und dennoch ist es kein trockenes Geschichtsbuch, sondern eine originelle, mitreißende Geschichte, deren Sog ich mich nicht entziehen konnte. Für mich ist es allerdings kein Buch, das man schnell nebenher lesen kann! Man muss jedem Kapitel genug Zeit geben, man muss mitdenken und mitfühlen, sonst betrügt man sich selbst um ein Leseerlebnis, das lange nachhallt.
Außerdem braucht man ab und zu einfach eine Verschnaufpause, denn immer wenn man denkt, jetzt kann es für unsere Helden doch unmöglich noch schlimmer kommen, kommt es schlimmer. Und dennoch will man weiterlesen, weiterlesen, weiterlesen... Zumindest ging es mir so.
Der Schreibstil strotzt nur so vor Atmosphäre und ist mal wortgewaltig, mal leise. Er beherrscht die volle Bandbreite der Emotionen, von schwärzester Verzweiflung bis hin zu augenzwinkerndem Humor. Einfach wunderbar, und auch die Übersetzung erschien mir sehr gelungen.
Fazit:
Was für ein unglaubliches Epos... Auf 864 Seiten beschwört Rohinton Mistry das Bild einer Welt herauf, die uns gänzlich fremd ist und uns dennoch den Spiegel vorhält: Indien im Jahr 1975, mit all seinen Unruhen und Umstürzen. Zwei Schneider aus der niedersten Kaste, ein junger Student und eine verzweifelte Witwe werden von ihrer jeweiligen Notsituation zu einer widerwilligen Wohn- und Arbeitsgemeinschaft gemacht, und der Leser verfolgt mit angehaltenem Atem, wie sie in den darauffolgenden Jahren vom Schicksal gebeutelt werden.
Das Buch macht es einem nicht leicht. Meines Erachtens sollte man mit der Erwartung an die Geschichte herangehen, dass sie einem immer mal wieder auf grausamste Weise das Leserherz brechen wird, denn der Autor ist gnadenlos gegenüber seinen Charakteren. Aber es ist dennoch ein lohnendes Leseerlebnis, das ich kein bisschen bereue und das ich auch weiterempfehlen würde! Manchmal sind die bewegendsten Bücher die, die auch ein bisschen wehtun.
Eins meiner Lieblingsbücher
Bewertung am 17.11.2010
Bewertungsnummer: 433490
Bewertet: Buch (Taschenbuch)
Das Gleichgewicht der Welt
Ich habe dieses Buch vor 10 Jahren gelesen, als es in Deutschland erschien. Ich bin kein Indienfan, aber es hat mich in seinen Bann gezogen.
Es erzählt das Leben von vier Personen zwischen 1975-1984 zur Zeit Indira Gandhis, die in Bombay leben und deren Kampf vom Versuch auf- bzw. nicht abzusteigen handelt. Eine erschütternde Geschichte, die von vier miteinander verwobenen Schicksalen berichtet und einen weder kalt- noch loslässt.
Dieser Roman gibt Einblicke in die politische sowie soziale Situation durch alle Kasten hindurch., die einen lange nach dem Ende immer noch beschäftigt.