Kritik als soziale Praxis
Band 13

Kritik als soziale Praxis

Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie

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Beschreibung

Details

Einband

Taschenbuch

Erscheinungsdatum

15.06.2009

Verlag

Campus

Seitenzahl

272

Maße (L/B/H)

21.3/14/1.8 cm

Beschreibung

Rezension

Celikates liefert nicht nur wichtige Denkanstösse für das Unternehmen Sozialkritik, sondern bietet darüber hinaus ein reizvolles Gerüst für eine kritische Theorie, die nicht mehr über und für die Akteure spricht, sondern konstitutiv auf einen Dialog mit ihnen verwiesen ist. (Politische Vierteljahresschrift (PVS), 01.09.2010)

Details

Einband

Taschenbuch

Erscheinungsdatum

15.06.2009

Verlag

Campus

Seitenzahl

272

Maße (L/B/H)

21.3/14/1.8 cm

Gewicht

344 g

Auflage

1

Sprache

Deutsch

ISBN

978-3-593-38885-4

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II. »Den Akteuren auf der Spur«: Das Modell der Symmetrie

»A curious fact becomes apparent if you look at the first paragraph – it may occur in the third paragraph – of the reportedly revolutionary scientific treatises back to the Pre-Socratics and extending up to at least Freud. You find that they begin by saying something like this, ›About the thing I’m going to talk about, people think they know, but they don’t. Furthermore, if you tell them it doesn’t change anything. They still walk around like they know although they are walking in a dream world.‹ […] What we are interested in is, what is it that people seem to know and use?«
(Harvey Sacks)

»The sociologists are forever beginning their descriptive works, ›Whereas it is commonly held that ...‹ Then comes the corrective. […] First, the writer knows without needing to demonstrate, one member to another, what it is that he is furnishing as to what the man in the street believes. […] Second, he is somehow or other able to assign beliefs to the common man, without courting a quarrel. […] The third feature is that the common-sense knowledge is said to be defective, and what the writer furnishes is a repair.«
(Harold Garfinkel)

1. Einleitung

Eines der zentralen Ergebnisse der im ersten Teil ausgeführten Kritik an Bourdieus Konzeption einer kritischen Sozialwissenschaft – und allgemeiner: aller sozialwissenschaftlichen Modelle, die durch die Dogmen des Szientismus und Objektivismus sowie des Bruchs und der Asymmetrie gekennzeichnet sind – ist, dass eine Theorie, die den »gewöhnlichen« Akteuren die Fähigkeit abspricht, sich von der Situation zu distanzieren und in ein reflexives Verhältnis zu ihrem Handeln zu treten, die Komplexität der sozialen Realität im Allgemeinen und der Alltagspraxis im Besonderen verdeckt und nicht adäquat zu erfassen vermag. Die Sozialtheorie braucht ein Vokabular, das es ihr ermöglicht, genau zu beschreiben, wie sich die Reflexivität der Akteure in alltäglichen sozialen Praktiken konstituiert und wie sie in ihnen zum Ausdruck kommt. In diesem zweiten Teil wende ich mich mit der Ethnomethodologie und der an sie anknüpfenden Soziologie der Kritik zwei Versuchen zu, ein solches Vokabular auszuarbeiten.
In der Perspektive Bourdieus stellen die Akteure ihr Handeln – ob es nun um ästhetische Vorlieben, Konsumentscheidungen oder Politik geht – unbewusst in den Dienst der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Welche Gründe sie auch immer für die Wahl dieses Radiosenders, dieses Gemüses oder dieser Partei angeben und wie sie ihr eigenes Handeln auch immer deuten, Bourdieu behauptet zeigen zu können, dass ihr individuelles Handeln letztlich durch ihre objektive Position im sozialen Feld bestimmt wird. Die nun zu diskutierenden Ansätze interessieren sich hingegen gerade für die Deutungen und Rechtfertigungen der Akteure, also dafür, wie sie handeln und ihr Handeln interpretieren, insbesondere wie sie dieses Handeln wechselseitig rechtfertigen und kritisieren. Das kann man nur herausfinden, wenn man die Akteure ernst nimmt und nicht als judgmental dopes behandelt. Deshalb wird der Fokus von Strukturen, Herrschaftsverhältnissen und anderen hinter dem Rücken der Akteure und für sie undurchschaubar wirkenden sozialen Kräften auf die komplexen Praktiken der Rechtfertigung und der Kritik in konkreten Situationen sowie die damit verbundenen Selbstdeutungen der Akteure gelenkt. Die Ethnomethodologie ermöglicht mit ihrem radikalen Verzicht auf die epistemische Privilegierung der sozialwissenschaftlichen Beobachterperspektive gegenüber der Teilnehmerperspektive kompetenter Gesellschaftsmitglieder den Übergang von einer »Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft«, wie sie Bourdieu betreibt, zu einer Soziologie der Urteilskraft und der Kritik, wie ich sie im Anschluss an die Arbeiten der Gruppe um Luc Boltanski im vierten Abschnitt dieses Teils skizziere.
Ganz allgemein gesprochen reihen sich die beiden Ansätze, die ich als exemplarisch für das im Gegensatz zum Modell des Bruchs stehende Modell der Symmetrie diskutiere, in die von Hermeneutik und Phänomenologie inspirierte Gegenbewegung zur naturalistischen und szientistischen Konzeption der Soziologie als allgemeiner Gesetzeswissenschaft ein, die auch noch die Idee einer kritischen Sozialwissenschaft informiert. Diese Gegenbewegung stellt das Wissen, die Fähigkeiten und das Selbstverständnis der Akteure ins Zentrum, die aus einer objektivistischen Beobachterperspektive nicht zugänglich sind, und dreht die epistemische Hierarchie zwischen »gewöhnlichen« Akteuren und Sozialwissenschaftlern um.
Die phänomenologische Soziologie (etwa in der von Alfred Schütz geprägten Form) stellt einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar, der auch für die Position der Ethnomethodologie prägend ist; sie geht aber noch nicht weit genug, weil Common Sense und Alltagswissen der Akteure nur als weiteres Thema der sozialwissenschaftlichen Analyse, nicht aber als im Prinzip gleichrangige oder sogar vorrangige Formen des Wissens über die soziale Welt in den Blick kommen. Schütz’ Kritik des naturalistischen und szientis­tischen Verständnisses der Soziologie beschränkt sich denn auch auf den Vorwurf, diese verpasse den Sinn und die spezifische Rationalität der Alltags­praxis, die sich nur erschlössen, wenn man – wie die phänomenologische Soziologie – den Common Sense selbst als theoretische Ressource entdecke. Das Projekt einer von den Selbstdeutungen der Akteure strukturell unterschiedenen und im Verhältnis zu diesen auch epistemisch privilegierten Wissenschaft des Sozialen wird damit nicht aufgegeben, sondern nur anderen Adäquatheitskriterien unterworfen – und auch der phänomenologische Hinweis auf die wissenschaftlich nicht einholbaren lebensweltlichen Grundlagen einer Wissenschaft des Sozialen ist nicht als Einwand gegen dieses Projekt, sondern als Weg zu seinem adäquateren Verständnis gemeint (vgl. Schütz 1971 [1953]: Abs. IV).
Vor diesem Hintergrund stellt die Ethnomethodologie eine Radikalisierung der von der Phänomenologie mitgetragenen pragmatischen Wende dar. Sie versteht sich selbst nicht als eine weitere, empirisch reichhaltigere Form der theoretischen Analyse, sondern als Alternative zum orthodoxen sozialwissenschaftlichen Projekt und seinen in der Einleitung skizzierten dogmatischen Vorannahmen. Mit diesem Selbstverständnis geht eine vollkommene Revision des Status der Theorie einher: Professionelle und Laien-Soziologie gelten als epistemisch gleichwertige Modi praktischer Reflexion, die Teil des sozialen Lebens sowie seiner Reproduktion und Transformation in konkreten Interaktionssituationen sind. Analyse, Interpretation, Reflexion und Kritik werden als Dimensionen der Alltagspraxis selbst sichtbar. Auf diese Weise wird die Kontinuität zwischen praktischen und theoretischen Formen des Selbst- und Weltverhältnisses herausgestellt, nicht deren Diskontinuität. Denn auch die theoretische Reflexion ist eine Form des »practical sociological reasoning«, des praktischen soziologischen Denkens, in dem die Ethnomethodologie einen wesentlichen Aspekt der Alltagspraxis erkennt.
Die Ethnomethodologie geht in ihrer Kritik des orthodoxen Projekts jedoch noch weiter und behauptet, gerade die vermeintlich von der »natürlichen« oder »lebensweltlichen« Perspektive der Akteure unterscheidbare theoretische und wissenschaftliche Einstellung der Sozialwissenschaftlerin sei (durchaus im Sinne Bachelards) ein Erkenntnishindernis, da sie die Details der konkreten Praxis ausblende und damit ihren Gegenstand nicht nur verzerre, sondern »verliere«. Die Reflexivität der Akteure und die alltägliche Produktion der sozialen Ordnung werden so zum »missing what«: Einmal durch die Ausgangsbeschreibung eliminiert, sind sie kaum mehr aufzufinden, und die von ihnen hinterlassene Lücke kann von den Sozialwissenschaftlern nur unter Rückgriff auf theoretische Hilfskonstruktionen – wie die Annahme der Internalisierung von Strukturen – gefüllt werden (vgl. Garfinkel 2006 [1948]: 126–129). Indem die Ethnomethodologie eben diese Dimension des Alltagshandelns ihrem handlungstheoretischen Vokabular zugrunde legt, entwickelt sie auch auf der Ebene der Methodologie eine radikale Alternative zur orthodoxen Sozialwissenschaft.
Ihre Radikalität verdankt die Ethnomethodologie der Tatsache, dass sie einen der Grundgedanken der vorliegenden Untersuchung, den ich als »methodologischen Egalitarismus« bezeichnen möchte, in einer beispiellosen Konsequenz durchspielt. Sie beansprucht nämlich, einen Zugang zur Praxis zu ermöglichen, der nicht über die Vorstellung eines Bruchs zwischen Theorie und Praxis, eine strukturelle Differenz zwischen Beobachter- und Teilnehmerperspektive und eine Gegenüberstellung von Wissenschaft und Common Sense vermittelt ist. Ihr Verhältnis zur Praxis und zu den Akteuren ist primär eines des Lernens, nicht des Erklärens und »Besserwissens«.
Selbst wenn man zugesteht, dass die Ethnomethodologie damit einen wichtigen Beitrag zur Kritik des szientistischen Selbstmissverständnisses der Sozialwissenschaften leistet und gegen den lange Zeit dominanten strukturtheoretischen Ansatz (etwa von Talcott Parsons) einer an konkreten Handlungen und Interaktionssituationen orientierten Herangehensweise (»agency« statt »structure«) zu ihrem Recht verhilft, so stellt sich doch die Frage, was ein so genauer Blick auf all die unscheinbaren Handlungen und Handlungskontexte des Alltags darüber hinaus zur Diskussion über den methodologischen Status kritischer Gesellschaftstheorien beitragen kann. Auf diese Frage lassen sich mindestens zwei Antworten geben, die ich an dieser Stelle schon einmal andeuten möchte, auch wenn sie über die ethnomethodologische Perspektive hinausführen. Zum einen lässt sich mit Erving Goffman sagen, dass sich auch diejenigen, welche die »gewöhnlichen« Akteure aus ihrem ideologischen Schlummer erwecken wollen, ein bisschen im Schlafzimmer aufhalten und den Leuten beim Schnarchen zusehen sollten. Zum anderen kann ein solcher »Blick ins Schlafzimmer« die bereits artikulierten Zweifel an der These vom ideologischen Schlummer und der schlafwandlerischen und konformistischen Einpassung der Handelnden in objektiv vorgegebene Strukturen substantialisieren und zeigen, wie komplex die alltäglichen Praktiken sind, in deren Rahmen die Akteure ihre Handlungssituationen stets aufs Neue konstituieren, problematisieren und aushandeln. Erst auf dieser Grundlage, so wird sich zeigen, lassen sich dann auch die spezifischen »Blockaden« dieser Selbstverständigungspraktiken diagnostizieren, die im Fokus der kritischen Theorie stehen.
  • Kritik als soziale Praxis
  • Vorwort von Axel Honneth 9
    Danksagung 15

    Einleitung 17

    1. Judgmental dopes, reflexive Akteure und Sozial wissenschaftler: Zur Fragestellung 17
    2. Kritische Theorie und pragmatische Wende: Zur Perspektive 27
    3. Philosophie der Sozialwissenschaften – Philosophie und Sozialwissenschaften: Zur Herangehensweise 33
    4. Drei Modelle der Kritik: Zur Gliederung 35

    I. »Ich sehe was, was Du nicht siehst«: Das Modell des Bruchs 39

    1. Einleitung 39
    2. Soziologie als Wissenschaft: Durkheim und die Folgen 41
    3. Pierre Bourdieus »soziologische Kritik der Urteilskraft« 52
    4. »Denn sie wissen nicht, was sie tun«: Habitus, Reflexivität und kritische Sozialwissenschaft .60
    5. Vier Einwände gegen das Modell des Bruchs 76
    6. Resümee und Ausblick 95

    II. »Den Akteuren auf der Spur«: Das Modell der Symmetrie 99

    1. Einleitung 99
    2. Was ist Ethnomethodologie? 104
    3. Reflexivität in der Alltagspraxis 116
    4. »Wozu die Menschen fähig sind«: Praktiken der Rechtfertigung und der Kritik 136
    5. Resümee und Ausblick 153

    III. Kritische Theorie als rekonstruktive Kritik 159

    1. Einleitung 159
    2. Externe oder interne Kritik? 160
    3. »Pathologien« zweiter Ordnung als strukturelle Reflexivitätsdefizite 166
    4. Soziale Bedingungen der Kritik: Kritische Theorie als Metakritik 174
    5. Kritische Theorie als rekonstruktive Kritik und Selbstreflexion I 187
    6. Psychoanalyse als Modell? 195
    7. Kritische Theorie als rekonstruktive Kritik und Selbstreflexion II 217
    8. System Justification und rekonstruktive Kritik 241

    IV. Schluss 249

    Literatur 253