In Sippenhaft
Band 14

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Negative Klassifikationen in ethnischen Konflikten

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Beschreibung

Details

Einband

Taschenbuch

Erscheinungsdatum

12.04.2010

Verlag

Campus

Seitenzahl

295

Maße (L/B/H)

21.4/14.1/2 cm

Beschreibung

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Einband

Taschenbuch

Erscheinungsdatum

12.04.2010

Verlag

Campus

Seitenzahl

295

Maße (L/B/H)

21.4/14.1/2 cm

Gewicht

367 g

Auflage

1. Auflage

Sprache

Deutsch

ISBN

978-3-593-39050-5

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1 Einleitung Klassifizieren, Kategorisieren, Ein- und Aussortieren – das scheint einer individualistischen und inklusiven Gesellschaft zuwiderzulaufen, in der jeder sich selbst erfinden und in seiner Eigenart dazugehören können soll. Kollektive Klassifikationen sind jedoch bis heute eine allgemeine gesellschaftliche Tatsache geblieben. Sie sind konstitutiv für unsere soziale Wahrnehmung und wie selbstverständlich in das Alltagshandeln inkorporiert, solange keine Akteure sie problematisieren und ihre Legitimität in Frage stellen. Dass wir einen kategorialen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen machen und daher von ihnen nicht dasselbe erwarten, lenkt beispielsweise unser Denken und Handeln in einer Weise, dass wir uns kaum noch vorzustellen vermögen, Kinder – wie in früheren Zeiten – als kleine Erwachsene zu behandeln (vgl. Ariès 1975; Dornes 2006). Andere Klassifikationen, namentlich solche, die sich an soziale Ungleichheiten und ethnische Differenzen heften, erweisen sich hingegen häufig als hochproblematisch und als Auslöser gesellschaftlicher Bewertungskämpfe. Die Sozialstruktur moderner Gesellschaften ist nämlich nicht nur von Bildungs-, Besitz- und Einkommensunterschieden zwischen sozialen Schichten und Berufsständen, zwischen den Geschlechtern, Generationen und ethnischen Gruppen geprägt. Mit objektiven Differenzen gehen immer auch Deutungen und Wertungen einher, die den sozialen Austausch bis in die kleinsten lebensweltlichen Episoden hinein formen und in den »täglichen Klassenkampf« (Bourdieu 1992: 148) eingehen. Der Sozialstruktur entspricht stets eine symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit (Bourdieu 1987: 246 ff.; Neckel 1991: 231 ff.; Neckel und Sutterlüty 2005: 409 ff.; Sutterlüty und Neckel 2006: 798 ff.), die auf allen Ebenen der alltäglichen Interaktion und in der kommunikativen Praxis gesellschaftlicher Institutionen erzeugt und reproduziert wird (vgl. Collins 2000; Douglas 1991). Symbolische Ordnungen teilen ungleichen Sozialgruppen – etwa Gebildeten und Ungebildeten, Arbeitenden und Arbeitslosen, Einheimischen und Fremden – in unterschiedlicher Weise Anerkennung und Missachtung zu. Dies geschieht insbesondere durch Klassifikationen, das heisst kategorisierende Zuschreibungen und Bewertungen. An historischen Unterscheidungen zwischen »Zivilisierten« und »Barbaren«, »Rechtgläubigen« und »Ketzern« oder »respektablen« und »gefährlichen Klassen« wird besonders augenfällig, wie machtvoll sich Klassifizierungen auf die gesellschaftliche Stellung und Behandlung von Personen und Gruppen auswirken können. Gegenüber den negativ Klassifizierten – kulturfremden Völkern im Zeitalter der Kolonialisierung, Andersgläubigen während der langen Ära der Inquisition oder pauperisierten Bevölkerungsteilen vor und nach der industriellen Revolution – wurden ansonsten weithin gültige Standards des zivilen Lebens suspendiert (Fischer 1982: 33 ff.; Osterhammel 2006: 19 ff.; Angenendt 2007: 231 ff.). Die erniedrigenden und gewaltförmigen Praktiken des Kolonialismus, der Inquisition und der Armendisziplinierung verurteilen wir heute als ebenso inakzeptabel wie die ihnen zugrunde liegende Vorstellung einer prinzipiellen Ungleichwertigkeit zwischen Ethnien und Kulturen, Religionen und sozialen Klassen. In westlichen Demokratien, die sich von der Idee einer naturgegebenen oder gottgewollten Ordnung verabschiedet haben und auf der Prämisse der menschlichen Selbstgesetzgebung gründen (Certeau 1988: 147 ff.; Habermas 1989: 11 ff.), sind soziale Klassifikationen und aus ihnen hervorgehende symbolische Ordnungen besonders häufig umkämpft. Sie unterliegen einem hohen Legitimationsdruck. Personen, Gruppierungen und Institutionen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen als ungleichwertig kategorisieren und behandeln, machen sich angreifbar, weil sie damit normative Standards unterlaufen, die für moderne Gesellschaften westlichen Typs konstitutiv sind. Gleichwohl kennen diese Gesellschaften weiterhin negative Klassifikationen, denn wo es eine normative Ordnung anerkannter Orientierungen, Handlungen und Leistungen gibt, müssen auch Klassifizierungen vorhanden sein, die Ablehnung und Missbilligung zu erkennen geben. So diskreditiert das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen notwendigerweise den »Rassisten«, und die in dieser Bezeichnung enthaltene Negativbewertung wird durchweg als legitim angesehen. In ihr kommt eine fundamentale und weithin anerkannte Norm zum Ausdruck, die etwa auch im Artikel 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland verankert ist und Eingang in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 gefunden hat. Degradierende Wertungen, die sich mit sozialen Ungleichheiten jeglicher Art verbinden, sind jenseits formeller Diskriminierungsverbote und Antidiskriminierungsgesetze auch in den Sphären informeller Kommunikation notorisch umstritten. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass sich im nachmetaphysischen Zeitalter die Beweislast für die Rechtfertigung von Ungleichheit umgekehrt hat; »erklärungsbedürftig« ist nun, wie Gertrud Nunner-Winkler (1997: 364) schreibt, »die Abweichung vom Gleichheitsprinzip und nicht dessen Unterstellung«. Vor einem solchen Hintergrund werden negative Zuschreibungen an die Adresse sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen legitimationspflichtig – nicht zuletzt deswegen, weil sie deren Chancen auf die Aneignung materieller Güter, die Ausübung politischer Partizipation und den Zugang zu begehrenswerten Sozialbeziehungen weiter einzuschränken drohen. In der Tat können sich mit positiven oder negativen Attributen versehene Klassifikationen mehr oder weniger direkt auf die objektive Struktur sozialer Ungleichheiten sowie auf die Integrationschancen der betroffenen Sozialgruppen auswirken. Das Verhältnis zwischen der Sozialstruktur und ihrer Deutung ist jedoch weder als ein deterministisches noch als ein einseitiges zu begreifen. Gesellschaftliche Strukturen und deren Wandel können ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit haben, während sich umgekehrt die Struktureffekte klassifikatorischer Wirklichkeitsdeutungen nur durch die historisch konkrete Analyse entsprechender Konstellationen und Konfliktverläufe bestimmen lassen (vgl. Neckel und Sutterlüty 2008: 22 ff.). Gegenstand dieser Studie sind »negative«, also abwertende oder diskriminierende Klassifikationen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in sozial benachteiligten und ethnisch gemischten Stadtteilen. Ihre gesellschaftliche Relevanz begründet sich aus der drängenden Frage nach der Entwicklungsdynamik und Sozialintegration von Stadtgebieten, deren Bewohnerschaft sich vornehmlich aus Zugewanderten und unterprivilegierten Einheimischen zusammensetzt. Ehe ich die Fragestellung der Untersuchung genauer erläutere (1.3), aus der dieses Buch hervorgegangen ist, möchte ich einen Blick auf die Rolle werfen, die soziale Klassifikationen (1.1) und Klassifikationskämpfe (1.2) in modernen Gesellschaften überhaupt spielen. 1.1 Soziale Klassifikationen Soziale Klassifikationen sind universelle menschliche Phänomene. Sie ordnen die soziale Umwelt und sind damit eine unabdingbare Voraussetzung für die Handlungssteuerung von Personen und Gruppen. Ohne ein solches kognitives Orientierungssystem wäre es individuellen und kollektiven Akteuren unmöglich, ihren Platz in der Gesellschaft zu definieren (siehe Douglas 1974; Schwartz 1981; Boltanski und Thévenot 1983; Nunner-Winkler 1995; Bowker und Star 2002). In der Soziologie ist der Begriff der Klassifikation untrennbar mit dem Namen Emile Durkheim und seiner These von der »sozialen Konstitution der Kategorien« verknüpft (Durkheim 1981; Durkheim und Mauss 1987). Am Beispiel von Klassifikationen in totemistischen Gesellschaften Australiens und Nordamerikas hat Durkheim zu zeigen versucht, dass so grundlegende Konzepte wie Raum und Zeit, Kraft und Kausalität, Gattung und Klasse sowie die Regeln logischer Verknüpfungen innergesellschaftlichen Strukturen nachgebildet sind, ja kausal von diesen determiniert werden. Ganze Kosmologien leitet er aus der sozialen Ordnung, das heisst aus den morphologischen und organisatorischen Merkmalen der von ihm untersuchten Aborigine- und Indianergesellschaften her. Die ineinander geschachtelte Gliederung dieser Gesellschaften – in Stämme, Phratrien, Clane und Heiratsklassen – bestimmt Durkheim zufolge, in welche Klassen sie die Phänomene der natürlichen Umwelt einteilen und in welchen Beziehungen sie diese untereinander sehen. Als die entscheidende Verbindungsinstanz zwischen der sozialen und der natürlichen Welt identifiziert er die Totems, die den Stämmen, Phratrien, Clanen und Heiratsklassen gewisse Pflanzen, Tiere oder Himmelskörper zuordnen. Es ist das Verdienst Durkheims, Klassifikationen überhaupt als einen wesentlichen Aspekt von Kultur isoliert und als theoretischen Begriff in die soziologische Analyse eingeführt zu haben. Weiterhin hat er auf die kollektive Natur jener Kategorien hingewiesen, die sozialen und kosmischen Ordnungen zugrunde liegen und die Wahrnehmung sozialer Akteure lenken. Durkheim hat damit aufgezeigt, dass es sich bei sozialen Kategorisierungen um »kollektive Vorstellungen« (Durkheim 1981: 581 ff.) handelt – um Vorstellungen also, die nicht individuellen Bewusstseinsvorgängen und mentalen Strukturen entspringen, sondern tief in das gesellschaftliche Gefüge eingelagert sind und dem Denken des Einzelnen immer schon vorausgehen. Dies impliziert, dass Klassifikationssysteme so vielfältig wie die jemals da gewesenen Gesellschaftsformationen sind und mit historischen, sozialen und kulturellen Kontexten variieren; in diesem Sinne ist jede Gesellschaft »eine Individualität, die ihre eigene Physiognomie und ihre Eigenart hat« (ebd.: 594). Durkheims Theorie wurde jedoch von verschiedenen Seiten kritisiert. Neben gravierenden empirischen, logischen und methodologischen Einwänden gegen eine unmittelbare Parallelität zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Klassifikationssystemen wurde die evolutionistische Grundannahme Durkheims zurückgewiesen, der zufolge alle späteren Klassifikationssysteme in denen totemistischer Gesellschaften ihre Urform haben sollen. Schliesslich hat sich die kausalistische Interpretation des Zusammenhangs zwischen der Organisation von Gesellschaften und der in ihnen geltenden Ordnung der Ideen als unhaltbar erwiesen (Lukes 1985: 435 ff.). Dennoch ist es nach wie vor ein fruchtbares Unterfangen, den von Durkheim postulierten Zusammenhang zwischen symbolischer Klassifikation und sozialer Struktur zu untersuchen (vgl. Needham 1969: xxxvi; Allen 1994: 62 f.; Weiss et al. 2001: 8 ff.; Barlösius 2005: 95 ff.). Mit Blick auf die Frage nach Klassifikationen, die gegenwärtig symbolische Ordnungen sozialer Ungleichheit beherrschen, ist hervorzuheben, dass sein Ansatz ein primär strukturalistischer ist: Er ist auf die innere Struktur von Klassifikations- und Wissenssystemen sowie auf ihren Zusammenhang mit den sozialstrukturellen Merkmalen von Gesellschaften zugeschnitten.
  • In Sippenhaft
  • Inhalt

    Vorwort von Axel Honneth 9
    Danksagung 17

    1 Einleitung 19
    1.1 Soziale Klassifikationen 22
    1.2 Klassifikationskämpfe 23
    1.3 »Negative Klassifikationen« 28

    2 Die empirische Studie 31
    2.1 Untersuchungsgebiete 32
    2.1.1 Barren-Ost 33
    2.1.2 Iderstadt-Süd 48
    2.1.3 Nachbarschaften 63
    2.2 Datenbasis 65
    2.2.1 Erhebungsmethoden, Feldzugang, Sampling 65
    2.2.2 Auswertungsmethode und Anspruch der Studie 70

    3 Muster negativer Klassifikationen 73
    3.1 Graduelle und kategoriale Klassifikationen 74
    3.2 Zentrale Rolle von Ethnizität 78
    3.3 Interethnische Klassifikationen des graduellen Typs 82
    3.3.1 »Protestantische Ethik im türkischen Gewand« 83
    3.3.2 »Expansiver Übernahmewille« 93
    3.3.3 »Türkische Überzahl« 102
    3.4 Interethnische Klassifikationen des kategorialen Typs 109
    3.4.1 »Deutsche Dissozialität« 109
    3.4.2 »Gefühlsmigrantentum« 122
    3.4.3 »Kriminelle Machenschaften« 133
    3.4.4 »Rationales Schmarotzertum« 142
    3.4.5 »Dreckigsein« 157
    3.5 Etablierte und Aussenseiter oder ethnische Ordnung sozialer Ungleichheit? 171

    4 Ethnischer Verwandtschaftsglaube 177
    4.1 Blutspenden in Barren-Ost 177
    4.1.1 Geben als Integrationsstrategie 179
    4.1.2 »Türkisches Blut« 182
    4.1.3 Universalismus mit partikularem Ziel 185
    4.1.4 Dynamik des Scheiterns 188
    4.2 »Verwandtschaft« als generatives Klassifikationsprinzip 195
    4.2.1 Blutsverwandtschaft 196
    4.2.2 Gabentausch unter Gleichen 199
    4.2.3 Ethnische Tiefendimensionen sozialer Ungleichheit 202
    4.2.4 Erweiterter Nepotismus und negative Klassifikationen 207

    5 Klassifikationskämpfe und soziale Desintegration 211
    5.1 Austragungsformen von Klassifikationskämpfen und Integrationsmodi 213
    5.1.1 Offene Klassifikationskämpfe 213
    5.1.2 Verdeckte Klassifikationskämpfe 223
    5.1.3 Zur Bedeutung quantitativer Gruppengrössen 235
    5.2 Integration und Ausgrenzung in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen 237
    5.2.1 Wirtschaft 237
    5.2.2 Politik 243
    5.2.3 Lebenswelt 252

    6 Das Paradox ethnischer Gleichheit 259

    Literatur 271