Beschreibung
Details
Einband
Gebundene Ausgabe
Erscheinungsdatum
08.02.2021
Herausgeber
Barbara RiegerVerlag
Kremayr & ScheriauSeitenzahl
256
Arthur Schnitzlers „Reigen“ wurde 1920 in Berlin uraufgeführt und löste einen der grössten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts aus. 100 Jahre später lädt Barbara Rieger zu einem kollaborativen Projekt: eine Adaption der zehn Reigen-Dialoge in Prosa. Fünf Autorinnen und fünf Autoren lassen sich von Schnitzlers Vorlage inspirieren, reagieren in einer Art Stille-Post-Verfahren auf die Episode der VorgängerIn und haben dabei nur eine Vorgabe: jeweils eine Figur für den nächsten Text am Leben zu lassen. Wie lassen sich sexuelle Begegnungen literarisch darstellen? Welche Rolle spielen Machtpositionen dabei? Können Frauen heute ihr Begehren offener zeigen als noch vor 100 Jahren? Barbara Rieger gibt Anstoss zu einem Denkprozess, der nie an Aktualität verlieren wird.Mit Texten von Daniela Strigl ∙ Gertraud Klemm ∙ Gustav Ernst ∙ Daniel Wisser ∙ Bettina Balàka ∙ Michael Stavarič ∙ Angela Lehner ∙ Martin Peichl ∙ Barbara Rieger ∙ Thomas Stangl ∙ Petra Ganglbauer ∙ Mit dem Originaltext von Arthur Schnitzler
Unsere Kundinnen und Kunden meinen
Schnitzlers Klassiker im modernen Gewand
Schmiesen am 04.04.2021
Bewertungsnummer: 1475743
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
"Ich weiß gar nichts von dir, aber die Finger wissen, die Haut weiß."
Arthur Schnitzlers "Reigen" löste einen Skandal aus, als es 1920 in Berlin uraufgeführt wurde. Es geht um die Schnelllebigkeit des Sexes, um die Promiskuität aller Gesellschaftsklassen, und Schnitzler nahm kein Blatt vor den Mund. Ähnlich halten es die 10 Autoren und Autorinnnen, die Schnitzlers Drama das erste Mal in einer Prosafassung adaptieren.
Schnitzlers scharfe Beobachtung der unterschiedlichen Klassen und sexuellen Begegnungen wird von den AutorInnen hervorragend in unsere moderne Zeit transzendiert. Dabei verlieren sie weder den Ur-Text aus den Augen, noch karikieren oder verzerren sie die Modernität, nur um dem Original nahe zu sein.
Die Steigerung des Reigens lässt sich als Veränderung in der sexuellen Begegnung erkennen. Die ersten beiden Geschichten handeln von rohem, gewalttätigem Sex, die Grenze zwischen Einvernehmen und Vergewaltigung wird von männlicher Seite klar überschritten. In den folgenden Geschichten übernehmen die Frauen das Ruder und lassen einen Mann schon auch mal unbefriedigt zurück. Weiter steigert es sich zum einvernehmlich, erotisch-abstoßenden Verkehr mit sehr jungen Frauen. Und am Ende wird der Sex transzendiert, philosophiert und überhöht - und bleibt doch nur Sex.
Egal, welcher Schicht, welchem Geschlecht, welcher Bildungsklasse die "HeldInnen" angehören, Nähe gibt es nicht über das Körperliche hinaus. Namen sind Schall und Rauch, Treue ist ein dehnbarer Begriff, und mit dem Sex versucht ein jeder und eine jede, einen Verlust oder einen Mangel zu kompensieren. Denn Liebe gibt es irgendwo, in einem anderen Leben, mit einem anderen Namen, aber niemals bei den Personen, die miteinander im Bett landen.
Jede/r AutorIn findet für seinen/ihren Part im Reigen eine eigene Erzählstimme. Gertraud Klemm hält sich für die Darstellung des Telefonsexes von Leonie und Josh auch an das Kurzformat des geschriebenen Dialogs. Gustav Ernsts Text ist auch ein Dialog, aber eingebettet in eine reale Situation, ohne den Vermittler Smartphone zwischen den Menschen. Daniel Wisser hält es in seinem Text ganz ähnlich, sodass der Übergang zwischen den beiden Geschichten vor allem auf der inhaltlichen Ebene zu finden ist - denn Mia ist bei Wisser eine andere als noch bei Ernst. Im hinteren Drittel schlägt der Ton dann um - weniger bodenständig, mehr poetisch sind die Texte von Peichl, Rieger und Stangl. Atemlose Satzfetzen, verworrene Gedanken, tiefergehende Gespräche. Aber auch dabei läuft alles auf das Körperliche hinaus, darüber kann das "schöne Gerede" nicht hinwegtäuschen. Petra Ganglbauer schlägt den Bogen zurück zu Schnitzler, als sich Ober- und Unterschicht im gleichen Bett vorfinden, und die Oberschicht entrüstet ist - primär über sich selbst.
Schnitzlers Text im Anhang verleiht dem Leseerlebnis die nötige Tiefe und Bandbreite. Viel vom Ur-Text hat seinen Eingang in die neuen Erzählungen gefunden, wenn auch vielleicht an anderen Stellen als im Original. Namen, Motive und ganze Passagen werden zitiert, manchmal sogar von den Figuren selbst. Die Beziehungskonstellationen sind beinahe exakt wie im Original. Da merkt man, dass die AutorInnen sich intensiv mit Schnitzlers Text beschäftigt haben.
Die Kreativwerkstatt im Flüsterpost-Format hat sich als voller Erfolg entpuppt. Der Klassiker wird so in die moderne Zeit geholt, ohne ihm untreu zu werden. Und die Lesefreude wird dadurch noch gesteigert, dass das Buch haptisch und optisch erstklassig gestaltet ist. Ein Schatz für jedes Klassiker-Regal. Chapeau!
Gelungene Modernisierung eines Klassikers
Christian1977 aus Leipzig am 28.03.2021
Bewertungsnummer: 1469853
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Als der Wiener Dramatiker Arthur Schnitzler 1920 in Berlin seinen "Reigen" uraufführen ließ, entfachte er damit einen der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts. Mehr als 60 Jahre lang wurde das Stück sogar verboten. Die so im Mittelpunkt stehende Sexualität entsprach damals einfach nicht dem "moralischen Bewusstsein" - obwohl Schnitzler darauf verzichtet hatte, die Beischlaf-Szenen explizit aufzuzeigen, sondern sie nur andeutete.
Mehr als 100 Jahre später hat sich die österreichische Autorin Barbara Rieger des Reigens angenommen und gemeinsam mit zehn weiteren AutorInnen den "Reigen Reloaded" herausgebracht, der jetzt bei Kremayr & Scheriau erschienen ist. Die Vorgabe bestand wie beim Original darin, einen Reigen aus zehn unterschiedlichen Szenen zu konzipieren, die auf verschiedene Arten Moral und Sexualität beinhalten - allerdings in Prosaform. Eine der beiden Figuren aus jeder Szene taucht dabei im darauffolgenden Kapitel wieder auf.
Zunächst einmal sticht die ausgesprochen gelungene Aufmachung des Bandes ins Auge. In lila-schwarzem Leinen und einer Typografie, die sofort auffällt und den Leser in die 1920er-Jahre zurückkatapultiert, besticht "Reigen Reloaded" durch eine ungemeine Eleganz, die durch den in Zartrosa abgegrenzten Originaltext komplettiert wird.
Eingeleitet wird der neue "Reigen" durch ein Vorwort von Daniela Strigl, bei dem es sich meiner Meinung nach anbietet, es sowohl vor, als auch nach der Lektüre des Buches zu lesen. Es führt den Leser informativ in die Thematik hinein, genauere Bezüge daraus erfasst man allerdings erst, wenn man den neuen und den Ur-"Reigen" gelesen hat.
Während sich die erste Szene zwischen der 14-jährigen Leonie und dem etwa 40-jährigen Schulhausmeister noch virtuell und angelehnt an Schnitzler als Drama abspielt, sind die folgenden neun Texte in ihrer Form freier und präsentieren sich mal als innerer Monolog, als Dialog mit Perspektivwechsel oder ein auktorialer Erzähler nimmt den Leser an die Hand - und die Begegnungen der Figuren sind real.
Dabei gelingt es den österreichischen AutorInnen in den meisten Fällen sehr gut, dem Ur-"Reigen" ein Denkmal zu setzen und darüber hinaus mit eigenen, modernen Interpretationen zu punkten. Der immer wieder durchscheinende, in Teilen recht böse Humor in Verbindung mit dem Drama der Sexualität hat mir dabei vor allem im Mittelteil außerordentlich gut gefallen. Insbesondere die Beiträge von Michael Stavaric, Angela Lehner und Martin Peichl schaffen es sowohl inhaltlich, als auch literarisch, dass aus "Reigen Reloaded" mehr als eine Hommage an Arthur Schnitzler wird - und bildeten somit für mich eine Art Herzstück des Bandes. Das stakkato-artig-lyrische "Kardamom" von Petra Ganglbauer bietet zudem ein außergewöhnliches und gelungenes Finale, das den "Reigen Reloaded" in unruhigen, aber aufregenden Gewässern nach Haus geleitet.
Nicht ganz so spannend fand ich es, wenn sich die Texte der AutorInnen in Inhalt und Form ein wenig zu sehr ähnelten, wie es gerade im ersten Drittel des "Reigen Reloaded" noch manchmal der Fall ist. Vergleicht man zudem den Ur-"Reigen" mit dem neuen Werk, kommt man zum Ergebnis, dass die neue Fassung - unter Berücksichtigung des Moralverständnisses damals und heute - doch verhältnismäßig brav ausgefallen ist. Liebe und Sexualität ist heutzutage dann doch mehr als normativ-heterosexuelle Beziehungen und um auch nur ansatzweise die Aufregung des Urtextes erreichen zu können, wäre hier vielleicht ein wenig mehr Risiko gefragt gewesen. Der Sexchat mit der Schülerin ist gleich zu Beginn der größte Aufreger.
Insgesamt ist "Reigen Reloaded" aber ein gelungenes Experiment, das zum Nachdenken über Moral und Sexualität anregt und dabei über weite Strecken sehr gut unterhält. Der Abdruck des Originaltextes ist dabei ein Gewinn, denn so ermöglicht das Buch dem Leser einerseits eigene Einblicke in Schnitzlers Text und andererseits kann er sich als Forscher betätigen und Referenzen und Unterschiede zwischen damals und heute selbst herausfinden. "Reigen Reloaded" ist somit mehr als eine lesenswerte Hommage an Arthur Schnitzler, die auch einmal mehr die Kreativität der österreichischen Literaturszene beweist.