Im abgelegenen, rauen japanischen Hochland beherrscht die archaische Natur das Leben der Dorfbewohner. Im Schatten des mächtigen Berges Narayama haben sie gelernt, ihren Rhythmus dem der aufspringenden Knospen anzupassen. Doch jeder Winter ist hart, und das Wohl der Familie steht an erster Stelle.
So auch für die zähe, fürsorgliche Orin, die sich unentwegt um das Glück ihres Sohnes sorgt. Noch vor Ende des Jahres muss sie ihm eine Frau finden. Beginnt erst der Winter, wird sie keine Gelegenheit mehr dazu haben. Denn der Brauch gebietet, dass sich die Alten mit siebzig auf eine Reise begeben, von der sie nicht zurückkehren.
Fukazawa erzählt eine japanische Legende im Hier und Jetzt, eine Geschichte von Leben und Tod, Liebe, Würde und Hingabe.
Dieses Büchlein ist eine Preziose: der Einband und natürlich der eigentümliche, ausserge- wöhnliche Text selbst mit den Liedern, die mit spöttischem Unterton, das Dorfleben illustrierend, in den Text hineingewebt sind.
Eigentümlich, weil er eine ungewöhnliche Schilderung ist, aus einer archaischen Zeit, aus einer archaischen Landschaft. Eine archaische „Triage“.
Und doch atmet der Text Lebensfreude, denn Orin hat es akzeptiert, dass sie mit 70 „auf den Berg geht“, nicht dumpf oder aufbegehrend gegen die Tradition, sondern freudig als Lauf des Lebens, als unausweichliches Schicksal.
Für uns moderne Menschen ist Orin eine Geisel archaischer Traditionen und die Triage gerade in den aktuellen pandemischen Zeiten ein Stich in das Wespennest unseres modernen Egos.
Die verwitwete Orin lebt mit ihrem Sohn Tatsuhei und Enkeln in der „Wurzelhütte“. Das Dorf besteht aus 22 Hütten, alle „getauft“. Das karge Hochland bietet den Dörflern kaum Abwechslung, bis auf das Bon-Fest, bei dem die Ahnen für 3 Tage im Diesseits mit Tanz empfangen werden, Neujahr und das Narayama-Fest. Es gibt nur wenig Anbauflächen. Das bedeutet knappe Ressourcen, und Nahrungsmittel-Diebstahl ist ein großes Tabu im sozialen Gefüge. Beim Narayama-Fest, das nur einmal im Jahr gefeiert wird, wird jedoch üppig getafelt: die Früchte der frühen herbstlichen Ernte und die kostbarste Delikatesse überhaupt, weißer Reis.
Orin freut sich auf das Fest, kann sie doch endlich wie alle Alten „auf den Berg gehen“, die wichtigste Reise ihres Lebens antreten, hinauf zum Göttlichen Berg. Sie ist bereit, denn sie hat für ihren Sohn eine neue Frau gefunden, Tamayan. Aber auch ihr Enkel Kesakichi hat sich schon verfrüht eine Frau gesucht, Matsuyan von der „Teichhütte“. Man heiratet spät, jedes neue Familienmitglied ist ein Esser mehr im essenknappen Dorfleben.
Der Winter nähert sich. Mehr denn je eine Herausforderung, denn nun gibt es 2 Personen mehr, die essen wollen, zumal Matsuyan wie ein Bär futtert (sie ist im 5. Monat schwanger).
Orin fühlt sich überflüssig mit den 2 neuen Frauen im Haus und sehnt sich nach der Reise zum Göttlichen Berg. Endlich gibt ihr Sohn schweren Herzens sein Einverständnis, obwohl die Schwiegertochter meint, man solle das kommende Baby von Matsuyan opfern.
Orin lädt zum Abschiedstrunk. 7 Männer und 1 Frau erscheinen, geben Abweisungen und Erklärungen, nehmen Gelübde ab. So ist es Brauch. Es gibt drei Regeln: No. 1: unterwegs nicht sprechen. No. 2: niemand darf sie beim Aufbruch sehen, No. 3: der Begleiter darf bei der Rückkehr vom Berg nicht zurück blicken ( Reminiszenzen an Lots Frau und Orpheus?). Einer gibt Tatsuhei den Tipp: es reiche schon bis zu den 7 Tälern, ein Rat, den er erst auf dem Rückweg versteht.
Orin will fort, ermahnt den Sohn, der sie über die 7 Täler, wo es nur einen und doch keinen Weg gebe, (die Symbolik des Unterwegsseins und des finalen Ankommens?) bis auf den Berg, wo der Gott wohnt, trägt.
Auf dem Berg legt Orin ihre gewebte Matte zurecht und legt ein Bällchen weißen Reis darauf. Sie schiebt den Sohn in Richtung Abstieg und drückt fest seine Hände.
Tatsuhei torkelt weinend abwärts. Er dreht sich nicht um. Doch dann beginnt es zu schneien, und er will dieses Glück mit seiner Mutter teilen, denn sie glaubte fest, dass es schneien würde, wenn sie auf den Berg, wo der Gott wohnt, geht. Er sieht sie beten, die Matte um sich gelegt, vom Schnee umhüllt.
Er begegnet bei den 7 Tälern dem Sohn des Nachbarn, der seine Trage abschnallt und den Vater hinabstürzt.
Das Schlussbild als „Das Leben geht weiter“-Sinnbild: der Enkel sitzt betrunken in Orins ge- füttertem Wattemantel, seine Frau trägt Orins Stoffgürtel. Und er sagt: Oma hat Glück: es schneit.
In diesem kleinen Buch ist alles enthalten, was das menschliche Leben ausmacht: Liebe, Zuneigung, Trauer, Sorge, Neid, Schicksalsergebenheit, Auflehnung, existenzielle Not, Rituale, Würde, Erbarmen. Und der Tod. Der präsent ist als Teil des Lebens. Der in unseren Zeiten verdrängt wird, nur durch Schlagzeilen von Kriegen und von Pandemien kolportiert wird, bis er wieder verschwindet aus unserem kollektiven Bewusstsein.
Ganz wunderbar die Sprache: schlicht und klar mit naturnahen Einsprengseln. Keine manirierten Sentimentalitäten, sondern mitfühlend, miterlebend und nachdenklich berührend.
In vielen Märchen und Mythen, besonders bei den Indianern, Eskimos und anderen arktischen Völkern gibt es den Senizid. Und es ist Fukazawa hoch anzurechnen, dieses Phänomen so einfühlsam und plastisch in Literatur verwandelt zu haben.
Für mich ist Orin eine Heldin. Eine lebensfrohe, mutige Frau, die ihren Weg erkennt und ihn konsequent verfolgt und als Opfergang für ihre Familie zu Ende geht. Gekrönt von der letzten Freude: dem Schnee.
Fukazawa bezeichnet das Alter als „das Herumtrödeln auf dem Weg zur Unterwelt“.
So sollten wir, das Herumtrödeln genießen, uns der kleinen Dinge des Lebens erfreuen, z.B. Bücher wie diese als Schätze zu entdecken in der Flut der mediokren Publikationen.
begebt euch selber auf die Reise zum Narayamaberg …
Ronny S. am 14.11.2023
Bewertet: Buch (Taschenbuch)
„… Oma hat Glück … Der Schnee … Es ist wirklich wahr geworden!“ (Seite 79)
Japanisches Hochland. Die Natur bestimmt den Takt. Den Takt allen Lebens und besonders die der Dorfbewohner. Die Zeit ist endlich - vorgeschrieben, bestimmt.
Orin, die „alte Hexe von der Wurzelhütte“, ist 69 Jahre alt. Der Brauch schreibt vor, dass sich die Alten mit 70 Jahren auf eine Reise zum Narayamaberg begeben, von der sie nie wieder zurückkehren - und: „man wird vom Berggott nur belohnt, wenn man rechtzeitig geht.“ (Seite 33)
„Der Narayama war nicht irgendein Berg: Auf diesem Berg wohnte ein Gott.“ (Seite 12)
Wir begleiten auf den wenigen Seiten den Rhythmus der Gemeinschaft, der sich ununterbrochen dem Berg und dem neuen Leben anpasst.
Senizid, agrarische Lebensform, Rohstoffknappheit, Tradition, Liebe, Tod, abgeschottete Gemeinschaft, Berge als Anderswelt sind nur einige Themen denen wir begegnen.
Ich fand die Geschichte einfach gehalten, aber auch kraftvoll: kraftvoll, wenn man sich damit beschäftigt und die Zwischenzeilen auf sich selbst wirken lässt.
Ich möchte den Inhalt gar nicht weiter wiedergeben - begebt euch selber auf die Reise zum Narayamaberg …
Ein wertvolles Nachwort präsentiert uns Eduard Klopfenstein mit einigen interessanten Informationen zum Inhalt und zum Autor.
Thomas Eggenberg ergänzt das Buch ebenfalls um ein wertvolles Nachwort und übersetzte das Buch aus dem Japanischen auf einer sprachgewandten sympathischen Art.
Wieder mal ein Highlight.