Eine junge Psychologin ist die Hauptfigur in Theresa Pleitners erstem Roman »Über den Fluss«. Mit gerade abgeschlossenem Studium meldet sie sich freiwillig, um in einem provisorischen Aufnahmelager am Rand einer deutschen Grossstadt geflüchtete Menschen zu betreuen. Bald erfährt sie, wie begrenzt ihre Möglichkeiten sind, den Traumatisierten in der hoch gesicherten Einrichtung zu helfen. Ihre Geschichten verfolgen sie bis in den Schlaf und treiben sie in die Vereinsamung. Immer stärker erlebt sie die Widersprüchlichkeit ihres Auftrags, zu dem es auch gehört, die Menschen notfalls zu entmündigen und Abschiebungen zu tolerieren – als Teil des Systems wird sie zum Teil des Problems. Als sie mit einem Geflüchteten konfrontiert wird, der sich das Leben nehmen will, gerät sie in ein moralisches Dilemma. Sie entscheidet – falsch – und verfasst einen eindringlichen Rechenschaftsbericht, nach dem man das Wort »helfen« nie mehr lesen wird wie zuvor.
Eine Psychologin, gerade frisch mit der Uni fertig, tritt eine Stelle in einer Erstaufnahmeeinrichtung an. Sie hat den Anspruch zu helfen, möchte das System, welches in ihren Augen absolut dysfunktional ist, sozusagen von innen umkehren, muss aber schon bald feststellen, dass ihr die Hände gebunden sind. Sie ist dort lediglich dazu da Ruhe rein zu bringen und den „Gästen“ das Versprechen anzunehmen, sich für die Zeit der „Behandlung“ nichts anzutun. Therapiert wird nicht wirklich, da dies niemand zahlt und wenn man überhaupt von Behandlung sprechen kann, dann höchsten mit dem Verschreiben von Medikamenten. Dies alles führt dazu, dass sie irgendwann abstumpft und einen folgenschweren Fehler begeht.
-
In diesem Buch treffen Welten aufeinander. Auf der einen Seite ist da die namenlose Protagonistin, die tief in ihrem Kern die Welt verbessern will. Auf der anderen Seite befindet sich die harte Realität.
Die Schilderungen der Zustände in der Erstaufnahmeeinrichtung schockieren: viele Menschen auf engstem Raum, Ungeziefer, Lautstärke, keine Privatsphäre, schlechte medizinische Versorgung… auch die Einblicke ins Asylsystem und die Behandlung von Menschen, die sich hier ein besseres und vor allem sicheres Leben erhoffen und dabei oft Monate, manchmal Jahre in einer solchen Einrichtung ausharren, machen wütend. Und ich denke das beides sehr realistisch dargestellt ist.
Man erfährt von vielen Einzelschicksalen, von vielen psychischen Erkrankungen, die die Flucht, die Erlebnisse, welche dazu geführt haben und die Isolation mit sich bringen. PTBS und Depressionen kommen verhältnismäßig häufig vor und das schlimmste für mich war zu lesen, wie damit umgegangen wird. Die Personen werden mit vielen Medikamenten ruhig gestellt, im Zweifel in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen, aber wirkliche Hilfe findet nicht statt.
Trotz der Anonymität der Protagonistin konnte ich mich gut in ihre Lage versetzen, ihr Entsetzen teilen und auch die Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber dem System spüren.
Pleitner versteht sich gut darauf, Gefühle zu beschreiben und nichtsdestotrotz eine gewisse Disstanz zu dem Geschriebenen zu wahren. Ihr Schreibstil liest sich sehr leicht, kommt ohne große Ausschmückung und Drama aus, was mir gut gefallen hat.
Das Ende kam mir dann doch etwas zu überstürzt, fühlte sich irgendwie nicht richtig auserzählt an, passt aber in der Retrospektive ganz gut zu dem Buch.
-
Eine Empfehlung für alle die sich für das Thema interessieren und einen Blick über den Tellerrand werfen wollen.
Ein starkes Debüt der jungen Autorin....
Bewertung am 19.04.2023
Bewertungsnummer: 1925410
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Ein starkes Debüt der jungen Autorin. Eine junge Psychologin meldet sich freiwillig in ein Aufnahmelager für geflüchtete Menschen. Sie stößt an ihre Grenzen und Möglichkeiten, gerät in moralische konflikte und trifft falsche Entscheidungen. Besonderer Lesetipp!