Leben im Exil - aus den Augen eines Kindes - 3,5⭐️
Bewertung aus Freiberg am 16.06.2025
Bewertungsnummer: 2517081
Bewertet: Buch (Taschenbuch)
Irmgard Keuns Roman "Kind aller Länder", der erstmals 1938 erschien, ist aus der Perspektive eines 10jährigen Mädchens, Kully, geschrieben. Ihr Vater konnte als Schriftsteller nicht mehr in Deutschland bleiben, da seine Bücher dort verboten wurden. Seitdem lebt die dreiköpfige Familie im Exil. Der Vater lebt von Zeitungsartikeln und Vorschüssen seiner Auslandsverlage, ist ständig in Geldnöten.
Mutter und Tochter lässt er meist in Hotels zurück, wo noch Rechnungen offen und ständig Ausreden gefordert sind, während er reist und arbeitet. Sein leichtfertiger Lebensstil und seine Verschwendungssucht machen die Lage nicht besser. Quer durch Europa führen seine Geldbeschaffungsversuche, von Ostende über Brüssel, Paris, Prag, Nizza und sogar nach New York.
In kindlich-naivem Erzählton berichtet die kleine Kully von ihrem rast- und heimatlosen Leben.
"Wir haben so viele Gefahren, das alles ist so schwer zu verstehen.
Vor allem muss ich lernen, was ein Visum ist. Wir haben einen deutschen Pass, den hat uns die Polizei in Frankfurt gegeben. Ein Pass ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt. Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben. Man darf dann in kein Land mehr. Aus einem Land muss man 'raus, aber in das andere darf man nicht 'rein. Doch der liebe Gott hat gemacht, dass Menschen nur auf dem Land leben können. Jetzt bete ich jeden Abend heimlich, dass er macht, dass Menschen jahrelang im Wasser schwimmen können oder in die Luft fliegen.
Meine Mutter hat mir aus der Bibel vorgelesen. Da steht wohl drin, dass Gott die Welt erschuf, aber Grenzen hat er nicht geschaffen."
"Meine Mutter möchte Zimmermädchen sein und arbeiten, damit sie Geld verdient. Aber die Länder erlauben ihr nicht, dass sie ein Zimmermädchen ist.
Die Welt ist dunkel geworden, denn es gibt Regen und Krieg.
Herr Krabbe weiß alles vom Krieg. Krieg ist etwas, das kommt und alles totmacht. Dann darf ich nirgends mehr spielen, und immerzu fallen Bomben auf meinen Kopf."
"Mein Vater wollte auch zuerst nicht, dass wir nach Italien fahren sollten, weil Italien mit Deutschland befreundet und darum ein gefährliches Land ist.
Aber wir sind Emigranten, und für Emigranten sind alle Länder gefährlich, viele Minister halten Reden gegen uns und niemand will uns haben, dabei tun wir gar nichts Böses und sind genug wie alle anderen Menschen."
Das Thema "Leben im Exil" wird durch die kindliche Perspektive mal auf andere Art umgesetzt.
Das Werk ist sicherlich auch autobiographisch geprägt, die Eltern von Kully sind als literarische Versionen von Joseph Roth und Irmgard Keun erkennbar.
Wie es sich anfühlen muss, in keinem Land gewollt zu sein, kein Zuhause zu haben, immer nur auf der Durchreise zu sein - das ist sehr gut dargestellt.
Dennoch fand ich diesen Roman leider lange nicht so eindrücklich wie Irmgard Keuns Werke "Nach Mitternacht" und "Das kunstseidene Mädchen", welche mich sehr beeindruckt hatten.
"Kind aller Länder" ist ein nachdenklich stimmendes Zeitzeignis und aufgrund des Themas unbedingt ein wichtiges Buch, das auch gute Momente hat, mich jedoch nicht komplett überzeugen konnte. - 3,5⭐️
literaturbine (ehemalige Buchhändlerin Osiander) aus Speyer am 23.07.2021
Bewertungsnummer: 1535656
Bewertet: Hörbuch (CD)
Eine große Vergessene der deutschen Literatur! Die 10-jährige Kully beschreibt ihr Leben in der Emmigration der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Dauernde Geldnot und die Unzuverlässigkeit des Vaters machen ihr und ihrer Mutter das Leben schwer. Irmgard Keun hatte, als sie das Buch schrieb, eine Affäre mit dem Exilautor Josef Roth. Das Hörbuch hat einen Bonustrack von dem Literaturkritiker Volker Weidermann, in dem er über das Buch und die damalige Zeit spricht. Für Literaturinteressierte, gut gelesen!