Eine Frau sucht einen Namen für ihren Tumor. Eine andere holt sich die Pappfigur eines Popsängers ins Haus, als der geliebte Sohn auszieht. Eine Kinderhasserin bietet sich ihren Freunden als Leihmutter an. Aus Angst, seiner Exfreundin zu begegnen, traut sich ein Mann kaum noch vor die Tür, und eine Verlassene kann die Trennung buchstäblich nicht verdauen.
Die Protagonisten von Michela Murgias Geschichten erleben alle auf ihre Weise einen radikalen Umbruch: Sie verlieren sämtliche Gewissheiten – und finden die unterschiedlichsten Antworten auf das, was ihnen geschieht. Sie treffen ungewöhnliche Entscheidungen, kämpfen ums Überleben, erfinden sich neue Rituale oder wählen die kontrollierbare Katastrophe, um der unkontrollierbaren zu entgehen.
Ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung erzählt Michela Murgia in zwölf miteinander verflochtenen Geschichten von Krankheit und Tod, von Trauer und neuer Liebe, von der Kunst des Abschiednehmens und der des Weiterlebens. Ein Mut machendes Buch über Krisen und Neuanfänge, wahrhaftig und hell.
literaturbine (ehemalige Buchhändlerin Osiander) aus Speyer am 12.03.2024
Bewertungsnummer: 2152127
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Dieser Erzählband ist das letzte Buch der italienischen Autorin Michela Murgia. Sie ist 2023 im Alter von 51 Jahren gestorben. Tief verbunden war sie mit ihrer Heimat Sardinien und gilt heute als eine sehr wichtige Schriftstellerin des Landes.
Erzählungen zu schreiben, ist die hohe Kunst der Schriftstellerei. Die Autorin fasst hier 12 Erzählungen zusammen, die sich mit den Themen Krankheit, Trauer, Frausein, Familie und Abschied beschäftigen und jede Geschichte ist fein mit der anderen verwoben.
Die Sprache ist klar, manchmal kompromisslos hart, oft liegt die Wahrheit zwischen den Zeilen, in den leisen Tönen. Natürlich spielen die Erfahrungen und Empfindungen der Autorin eine große Rolle in den Texten und das macht sie noch wirkungsvoller.
Immer häufiger lasse ich mich auf das Lesen von Kurzgeschichten ein und es lohnt sich sehr!
Ein letztes Buch, das ganz viel Eindruck hinterlässt!
Aus dem Italienischen übersetzt von Esther Hansen.
12 intensive Kurzgeschichten
Bewertung am 08.02.2024
Bewertungsnummer: 2126261
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Die 155 Seiten haben es in sich. Es ist ein unbequemes Buch. Beim Lesen beschlich mich immer mehr das Gefühl, dass Murgia unverblümt von Situationen erzählt, über die man nicht gern spricht, die man nicht gern hört. Und tatsächlich machte ich nach jeder Geschichte eine Pause und habe lange darüber nachgedacht.
Murgia schreibt über Krisenzeiten, Trauer, Verlust, Krankheit und Tod – Zeiten, in denen Menschen nach Verbündeten suchen, nach Lösungen. Das Verbindende sind die durchweg namenlosen Figuren, die sich wie ein unsichtbarer, loser, roter Faden durch die Geschichten ziehen, was sie zu etwas Universellen macht. Ganz im Gegensatz zu den Lösungen, die individueller nicht sein könnten. Und das macht das Buch so nachdenklich.
Da ist die Frau, die erfährt, dass sie Krebs hat und ihrem Tumor einen Namen geben will – Murgias biografischste Geschichte. Oder ein Arzt, der mit ansehen muss, dass trotz akribischer Vorsichtsmaßnahmen sein Sohn mit Covid angesteckt wird. Die lesbische Frau, die Kinder hasst, sich aber als Leihmutter für ihren besten Freund zur Verfügung stellt. (Und das in einem Land, wo das Adoptionsrecht von Regenbogenfamilien beschnitten wird.)
Der Mann, der nach einer Trennung alle Orte meidet, an denen er mit seiner Freundin je gewesen ist. Die Exfreundin, die seitdem mit Übelkeit kämpft.
Eins haben sie alle gemeinsam – ihr Leben wurde durch ein Ereignis mehr oder weniger aus der Bahn geworfen. Murgia zeigt, dass es normal ist, auch unkonventionelle Lösungen zu finden. Gerade in der Pandemie hat sich immer wieder gezeigt, dass es manchmal etwas Kreativität braucht, um sich mit dem Unfassbaren, Unsichtbaren zu arrangieren, sei es auch nur, um nicht verrückt zu werden.
Nach allen Geschichten drängte sich die Frage auf, ob es wirklich ein Richtig oder Falsch gibt oder einfach nur die eigene Entscheidung, die uns hilft weiterzuleben, Akzeptanz zu finden, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Was für den einen bizarr und absurd erscheint, ist für andere vielleicht die einzige Art, einen Verlust zu kompensieren oder mittels eines Rituals eine Krise zu bestehen.
Somit wird Murgias Buch auch zu einem Appell an die Toleranz, denn so vielfältig die Menschen sind, so zahlreich sind auch ihre Entscheidungen. Damit richtet Murgia den Blick vom Individuum auf das Wir, mit ihrem direkten, ironischen Ton, den man von ihr kennt. Es ist nie zu spät, sich von alten Denkmustern zu lösen und neue Erfahrungen zu sammeln. Vielleicht war das Murgias Vermächtnis, ich weiß es nicht, aber wenn, dann würde es mir gefallen.
Anders als in Deutschland war Murgia in Italien eine der bekanntesten Stimmen, die sich zeit ihres Lebens gegen Misogynie, Homophobie und den Rechtsruck in ihrem Land einsetzte. Sie war vieles, Feministin, Aktivistin, Kommunistin und nicht zuletzt die Stimme Sardiniens. Ihr Schreiben war immer politisch, genau wie ihr Leben. Kurz vor ihrem Tod kaufte sie noch ein Haus für ihre zehnköpfige queere Familie und heiratet einen Mann, »aber es hätte genauso gut eine Frau sein können«, wie sie sagt, denn das Geschlecht spielte für sie keine Rolle.
»Ich bin fünfzig Jahre alt, aber ich habe zehn Leben gelebt. Ich habe Dinge getan, die die allermeisten Menschen in einem ganzen Leben nicht tun. Dinge, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie mir gewünscht habe. Ich habe wundervolle Erinnerungen.«*
In dem *Interview mit »Corriere della Sera«, bei dem sie ihre unheilbare Krebserkrankung öffentlich machte, sagte sie, wie wolle nicht unter der Regierung Melonis sterben. Dieser Wunsch hat sich nicht erfüllt, sie starb am 10. August in Rom.
Ich lege allen dieses Buch ans Herz, die eine innere Auseinandersetzung mit den o.g. Themen nicht scheuen und bereit sind, bei der Sicht auf die Dinge der Welt eine anderen Perspektive einzunehmen.
Meinungen aus unserer Buchhandlung
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Michela Murgias letztes Werk vereint ganz verschiedene Geschichten unterschiedlicher Personen, mal in der ersten, mal in der dritten Person erzählt. Gemeinsam haben sie, dass sie in Rom spielen, sich die namenlosen Figuren teilweise untereinander kennen und es um grosse Veränderungen im Leben geht. Umso reizvoller ist die Lektüre, bei der wir, wenn wir aufpassen, einen anderen Blick auf eine uns bekannte Person erhaschen.
Frauen, Männer, Menschen von Anfang 20 bis ca. Anfang 60, ehemalige Geliebte, mit Krankheiten Konfrontierte, Lehrer mit Kinderwunsch, kinderhassende Leihmütter, solche, die verlassen wurden, und solche, die andere verlassen haben: Murgias Personal ist so unterschiedlich, dass sich jede*r in einer der Figuren wiederfindet oder auch nur in einem Aspekt davon. Grandios sind die feinen sprachlichen Zwischentöne, ihre unvergesslichen Bilder, wie das der titelgebenden drei Schalen, der Kleider, die in der letzten Geschichte im Garten hängen u.v.m. Sie bringt Verständnis auf für ihre Figuren, ihre Fehler und Macken und damit auch für uns und unsere Menschlichkeit. Beinahe alles hat zwei Seiten, erinnert sie uns. Ihre Geschichten zeugen von Humor, Trotz, Lebensfreude, Leidenschaft und darunter, klar erkennbar: Zuversicht.
«Drei Schalen» ist ein wunderschönes Buch, nicht nur sorgfältig geschrieben und übersetzt von Esther Hansen, sondern auch ebenso sorgfältig gestaltet mit dem dunkelgrünen Vorsatzpapier und dem dazu passenden Schutzumschlag. Ein Genuss in jeder Hinsicht.