Eine steile Karriere, angesehene Familie, Ehemann und Kind – Constance Debré hat all das und wendet sich davon ab. Sie entschliesst sich zu einem Leben, das schon viele Männer vor ihr gewählt haben: Sie scheidet ihre Ehe, widmet sich ausschliesslich dem Schreiben, verzichtet auf die materiellen Sicherheiten einer festen Wohn- oder Arbeitsstelle und geht mit immer anderen Frauen ins Bett. Doch anders als so viele Männer will sie den Kontakt zu ihrem Kind nicht abbrechen – das erwirkt ihr Ex-Mann, nachdem er von ihrer Homosexualität erfahren hat. In einem langwierigen Sorgerechtsstreit kämpft sie um ihren Sohn, der sich immer weiter von ihr entfernt. Während sie auf die finale Entscheidung des Familiengerichts wartet, taumelt Debré zwischen einer Vielzahl von Gefühlen: Angst vor dem Verlust des Sohnes neben Akzeptanz für dessen Entscheidung, dem Verlangen nach unverbindlichem Sex und dem Bedürfnis nach engeren Verbindungen, einer tiefen inneren Leere und zugleich einer nie zuvor gekannten Freiheit.
Ohne Zurückhaltung und in prägnanten Sätzen ringt die Autorin um Antworten auf Fragen von Mutterschaft, Identität und Liebe und geht dabei hart ins Gericht mit gesellschaftlichen Normen, Glaubenssätzen, bürgerlichen Institutionen und nicht zuletzt mit sich selbst.
Ein bewegendes Buch. Ein intensives Buch! Ein trauriges Buch!
„Love me tender“ ist ein ungemein berührender Blick auf eine Mutter-Sohn-Beziehung, die vom Vater seit dem Coming-Out der Mutter torpediert wird. Und so etwas passiert heute, in unserer ach so fortschrittlichen Zeit. Tja, das Patriarchat möchte nicht die Macht verlieren, möchte nicht, dass es Neuerungen gibt und die Gesellschaft sich öffnet. Denn das würde ein Verlust für diese kleingeistigen Männer bedeuten. Und so was geht ja nun mal gar nicht.
Constance Debré hat alles, ist renommierte Anwältin, stammt aus einer angesehenen Familie, hat Mann und Kind. Sie schwimmt oben im Patriarchat, hat Geld und Macht. Doch etwas in ihr lässt sie handeln. Sie lässt sich scheiden, möchte nur noch schriftstellerisch arbeiten, denkt an sich, hat viele Affären mit Frauen. Das ist etwas, was viele tun. Vor allem Männer. Nur möchte Constance Debré nicht den Kontakt zum Kind abbrechen. Was viele Männer ja tun und im Patriarchat auch damit durchkommen. Doch eine Frau, die die ultimative Freiheit für sich verlangt, das geht natürlich zu weit. Homosexualität und die Ablehnung des Mammons, der uns alle beherrscht! Also nein. Never. Nada. Njet. Denn Debré hat keine feste Arbeit und dadurch auch keine Wohnung, tingelt einfach durchs Leben von Frau zu Frau und hat nach Versuchen in kleinen Wohnungen nun ein WG-Zimmer. Dies geht nun wirklich nicht.
Der Ehemann klagt und bekommt in unserem Patriarchat Recht. Der Mutter wird das Kind entzogen! Sie bekommt Besuchsrecht und muss sich allerdings auch dieses erstreiten. Denn der Ehemann stellt sich quer, kann nicht verkraften, dass seine Männlichkeit abgelehnt wird von Debré, seine so gepriesene Männlichkeit abgelehnt wird und dagegen Frauen von Debré bevorzugt werden. Unerhört!
Streitereien von Erwachsenen, die auf dem Rücken von Kindern ausgetragen werden. Schrecklich. Ich habe mich schon gefragt, wie Debrés Sohn dies wohl verkraften wird, was dies aus ihm macht.
Und Debrés Ehemann. Den verachte ich abgrundtief! Wie ich auch diejenigen verachte, die so etwas ermöglichen.
Eine schlimme Geschichte aus unserer Welt. Auch wenn immer gepredigt wird, dass es den Frauen woanders so schlecht geht. Nun. Manch einer unter uns geht es im Patriarchat auch nicht gut, wie Debrés Schicksal eindrucksvoll und beklemmend zeigt. Ich finde es sehr gut, dass die ehemalige Anwältin mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen ist. Denn das sollte gelesen werden, damit wir wissen, was wir wert sind. Also diejenigen unter uns, die das noch nicht mitbekommen haben!
Lesen!
Starker autofiktionaler und queerer Roman
Zauberberggast aus München am 10.05.2024
Bewertungsnummer: 2198016
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
“Homosexualität bedeutet für mich einfach Urlaub von allem.” (S. 27)
Die 47-jährige Ich-Erzählerin des Romans “Love me Tender” (Aus dem Französischen von Max Henninger, Matthes & Seitz Berlin) von Constance Debré erfindet sich komplett neu. Wie Phönix aus der Asche taucht sie aus ihrem konventionellen Pariser Leben mit Mann, Sohn und prestigeträchtigem Job als Strafverteidigerin auf: “Von nun an bin ich ein einsamer Cowboy.” (S. 21). Sie häutet sich wie eine Schlange, wird extreme Minimalistin, Großstadtnomadin, steigt sexuell komplett auf Frauen um und schreibt ein Buch - über sich und ihre Sicht der Dinge.
Es handelt sich hierbei um einen autofiktionalen Roman. Nicht nur ist Constance Debré (geboren 1972) auf dem Cover abgebildet, die Biographie der Autorin und der Ich-Erzählerin überschneiden sich komplett: Erfolgreiche Anwältin aus prominenter französischer Familie (Mutter adeliges Model, früh verstorben, Vater Journalist mit Kontakten in höchste Staatskreise), verheiratet, mit Sohn, legt ihr altes Ich ab, wird Schriftstellerin und schläft mit Frauen. Dabei kämpft sie um das Sorgerecht für ihren Sohn, das ihr aufgrund von Anschuldigungen ihres Ex-Mannes ihren Lebenswandel betreffend entzogen wird.
Die Ich-Erzählerin hat eine sehr nüchterne Weltsicht, man könnte schon sagen, desillusioniert. Sie sagt sich von allem los, was nach Angepasstheit aussehen könnte, steigt komplett aus aus dem Hamsterrad des Gewöhnlichen. Das Leben als kurzweiliges Abenteur, das herkömmliche humanistische Ideale wie Liebe, Familie und Sicherheit nicht mehr nötig hat. Die Ich-Erzählerin macht sich viele Gedanken zum Thema Mutterschaft und wie viel Unfreiheit in dieser liegt. Sollte man sich nicht auch von der Familie oder dem eigenen Kind “trennen” dürfen? “Du darfst mich hassen. Das ist sogar ein Erfordernis der Liebe, zu hassen. Es gibt keine Liebe ohne Hass. [...] Ein Kind muss seine Eltern hassen, vor allem ein Sohn seine Mutter.” (S. 67)
Natürlich spielen auch konventionelle Rollenbilder und deren radikale Ablehnung durch die Protagonistin, auch bei ihren gleichgeschlechtlichen Affairen, eine große Rolle. Wir kennen das Narrativ “Frau, gefangen im bürgerlichen Leben, die in ihren mittleren Jahren plötzlich ausbrechen will” von anderen französischen Autorinnen wie Leïla Slimani oder Maria Pourchet. Debré präsentiert sozusagen die queere Variante des Stoffes, allerdings erzählt sie auch ihre eigene Geschichte, was das Ganze sehr besonders macht.
Ich mag die erzählerische Kraft und Intensität, die in diesem schmalen, unaufgeregten Werk steckt, unglaublich gerne. Die Ich-Erzählerin reduziert sich nicht nur auf das unbedingt Notwendige in ihrem Leben, sondern sie wählt auch die Worte, die sie benutzt, um uns von ihrem Schmerz und Triumph zu erzählen, sehr sorgfältig aus: kondensiert, clean, kathartisch. Ein Buch, das mich sehr begeistert und überrascht hat und das man sicher mehr als einmal lesen kann. Ich hoffe sehr, dass auch die anderen Bücher der Autorin bald auf Deutsch erscheinen werden, sonst muss ich mich auf das Abenteuer “lire en Français” einlassen. Unbedingte Empfehlung.