Ein fulminante Zeitreise ins Jahr 1949 mit Erika Mann
1949: Erika, die älteste Tochter von Katia und Thomas Mann, begleitet die Eltern nach Jahren des Exils in den USA auf ihrer Europareise. Die zweifache Verleihung des Goethe-Preises an den Vater in Deutschland steht kurz bevor, als die Familie in Stockholm die erschütternde Nachricht von Klaus Manns Freitod ereilt. Während Erika beginnt, den Nachlass des geliebten Bruders zu ordnen, erinnert sie sich - an die behütete Kindheit in München, die wilden Zwanziger in Berlin, gemeinsame Werke und die Weltreise als Mann-Twins, das Engagement gegen die Nazis im Exil.
Unda Hörner verwebt die Lebenswege der Manns und die historischen Ereignisse virtuos zu einer atmosphärisch dichten Erzählung und entfaltet ein faszinierndes zeitgeschichtliches Panorama bis ins Schicksalsjahr 1949, in dem die Teilung Deutschlands für Jahrzehnte besiegelt wird.
Für alle Fans der Jahreszahlen-Trilogie »1919 - Das Jahr der Frauen«, »1929 - Frauen im Jahr Babylon« und »1939 - Exil der Frauen«.
Ein Sachbuch, spannend und bewegend wie ein Roman, eine Biographie, die unter die Haut geht. Unda Hörner – die ich bisher als Autorin noch gar nicht kannte – hat sich der Lebensgeschichte von Erika Mann angenommen, sie verfolgt, erforscht, analysiert. Erika Mann, Tochter des Zauberers Thomas Mann, Schwester von Klaus Mann, dem Wilden und Verzagten, dem Mutigen und Traurigen. Nicht ganz einfach, eine solche Familienbeziehung zu beschreiben, über die schon so viel gesagt, geschrieben, gefilmt und getuschelt wurde.
Anfang des 20. Jahrhunderts wachsen Erika und Klaus, nur ein Jahr auseinander, wie Zwillinge auf, verwirren und verunsichern nicht nur Nachbarn und Spielgefährten, später auch die Lehrerschaft. Kaum den Kinderschuhen entwachsen, machen sie sich auf die Reise, erkunden und erforschen Europa und die Welt. Jeder von ihnen auch immer mit eigenen Ideen, sexuellen Erlebnissen, missglückten Ehen und unerschöpflichem Enthusiasmus. Als der Nationalsozialismus in Deutschland Tatsachen schafft, die ihnen das Bleiben nicht erlauben, beginnt die endlose Zeit der Emigration. Dass Erika zusätzlich zum eigenen Unglück auch das der Eltern und des Bruders bewältigen muss, macht ihr das Leben nicht leichter.
Erst als die Eltern in Kalifornien ein neues Zuhause gefunden haben und auch die Großeltern in die Schweiz auswandern konnten, fällt eine kleine Last von Erika ab. Aber es sind bei Weitem nicht nur die praktischen Dinge des Alltags der Emigranten, die Probleme bereiten, auch die lange und als unerträglich empfundene Zurückhaltung des Vaters gegenüber dem Hitlerregime macht ihr zu schaffen.
Erika Mann schlägt sich durch, tapfer, immer wieder von Neuem versuchend, ihre Meinung nicht nur zu verbreiten, sondern auch zu verteidigen. Gegenüber den Amerikanern, die eher skeptisch und gefühlt weitab vom Geschehen in Europa sind, ist das besonders schwierig. Erst mit Eintritt der Amerikaner in den Krieg ändert sich das etwas. Und Bruder Klaus meldet sich freiwillig zur Armee, steht zwar nicht an der Front, aber arbeitet in Propagandaabteilungen. Auch von Erika wird berichtet, dass sie in Uniform nach Europa kommt, leider wird hierzu wenig berichtet. Dass sie nach dem Ende des Krieges die Angeklagten des Nürnberger Prozesses „besichtigen“ kann, ist eine schaurige Seite ihrer Erlebnisse.
Das Buch geht gedanklich den Weg zurück vom Suizid des geliebten Bruders, der sich im Mai 1949 in Cannes ereignete, als Erika mit ihren Eltern in Schweden weilte. Erika Mann wird danach mit ihren Eltern Kalifornien verlassen, in die Schweiz ziehen und ihrem Vater bis zum Tod 1955 als Assistentin, Beraterin, Sekretärin und Vertraute zur Seite stehen. Über diese Zeit und die Jahre bis zu ihrem Tod erfährt man im Buch von Unda Hörner nichts mehr. Es endet um die Zeit ihres vierundvierzigsten Geburtstags mit den Worten „Wir treffen uns im Unendlichen, Klaus, eines Tages. Du weißt, wir reisen als Zwillinge.“
Im Anhang findet sich ein umfangreiches Literaturangebot, ein neueres Buch möchte ich noch zusätzlich empfehlen: Uwe Wittstocks Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. Dort finden sich einige der bei Unda Hörner genannten Literaten wieder, die mit viel Mühe und unter Lebensgefahr dem Zugriff der Nazis entkommen konnten. So auch Erika Manns Onkel Heinrich mit Frau Nelly, die Werfels und die Feuchtwangers. Aus meiner Sicht eine passende Ergänzung.
Was mir am Ende etwas gefehlt hat, waren Kurzbiografien der wichtigsten Personen (Familie, Freunde) aus diesem Buch, wie sich ihr Leben nach 1945 entwickelt hat, welchen Widerständen sie zum Beispiel in Deutschland – Ost und West – begegneten. Zumindest eine kurze Beschreibung der letzten Jahre von Erika Mann fände ich unerlässlich. Sicher, man kann das alles im Internet oder den Literaturen, die genannt werden, nachlesen, aber es hätte das Buch abgerundet.
Der Schreibstil hat mir gut gefallen, manchmal jedoch fand ich Formulierungen nicht ganz passend, gerade „geflügelte Worte“, die erst wesentlich später geprägt wurde, erschienen mir etwas aufgesetzt. Als Beispiele nenne ich die Banalität des Bösen, ein Begriff, der erst 1961 von Hannah Arendt geprägt wurde, oder auch die Verwandlung der Deutschen nach dem Krieg in lupenreine Demokraten.
Dass Erika Mann und auch Klaus Mann niemals ihre Heimat Deutschland wiedergefunden haben, steht sehr im Gegensatz zum Buchtitel. Die Heimat ist ihnen und auch den Eltern abhandengekommen, da halfen niemals Drogen, Alkohol und Exzesse.
Fazit: Man lernt Erika Mann und ihren Bruder gut kennen in diesem Buch. Und man versteht die unendliche Trauer und Traurigkeit, die Erika Mann nach dem Tod ihres Bruders empfand. Sie konnte ihn nicht beschützen, nicht vor der Welt und nicht vor sich selbst. Ich empfehle dieses Buch gern, wer sich für Literatur und Biografien und die Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert, ist hier richtig.
#SolangeeseineHeimatgibtErikaMann #NetGalleyDE
Es gibt keine Heimat!
Bewertung aus Bamberg am 10.04.2024
Bewertungsnummer: 2174417
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
»Die Deutschen zeigen nicht die Spur einer Empfindung von Verantwortung, geschweige denn ein Gefühl von Schuld. […] Es gibt keine Heimkehr!«
Wir schreiben den 21. Mai 1949. Der Tag, an dem Klaus Mann, ältester Sohn von Thomas Mann, eine Überdosis Schlaftabletten schluckte und somit sein Leben freiwillig dem Tod übergab. Ausgehend von diesem Ereignis und immer wieder darauf zurückkehrend erzählt die Autorin Unda Hörner, beginnend mit der Jugend, prägende Facetten aus dem Leben von Erika Mann. Oft spielt dabei ihr geliebter Zwillingsbruder eine wichtige Rolle, dessen Todessehnsucht ihn schon früh plagte und für dessen nun vollzogenen Selbstmord sie sich selbst verantwortlich fühlt. Schließlich war sie nicht bei ihm, hat ihn allein gelassen in Cannes und war stattdessen mit den Eltern auf einer Vortragsreise in Stockholm unterwegs.
Das Buch beinhaltet eine wilde Reise durch das spannende und mehr als vielfältige Leben von Erika Mann.
In dessen Mitte stehen leitmotivisch der Vater Thomas Mann, Erikas Drang nach Freiheit, Veränderung sowie ihre scharfe Kritik am NS-Regime, welche sie besonders durch prägnante Essays und durch ihr politisches Kabarett „Die Pfeffermühle“ äußerte, aber auch der Umgang mit dem Exil, dem damit einhergehenden Verlust von Heimat und dem Leben in der Schwebe.
Eindrücklich wird auch das Ende des Buches in Erinnerung bleiben, welches sich mit den Nürnberger Prozessen sowie der Auseinandersetzung mit der Schuld-Frage beschäftigt und das Aufeinandertreffen von NS-Größen mit der ihnen wohl bekannten und verhassten Gegnerin schildert.
Unda Hörner gelingt es, dass Leben von Erika Mann spannend und auf eine annähernd reale Weise darzubieten, indem sie ihrem Buch epische Elemente zugrunde legt und dem Leser erlaubt, quasi direkt – als außenstehender Beobachter – an den Geschehnissen beteiligt zu sein.