Die Welt ist im Wasser versunken. Der Stadtkern Berlins ist innerhalb einer gigantischen Mauer verschont geblieben. Fünf Menschen leben darin, fünf ›Ewige‹, die jeden Sommer den anreisenden ›Fremden‹ die alte Welt zeigen und ihr Wissen weitergeben. Im Winter sind sie sich selbst überlassen und leben und lieben in verschiedenen Konstellationen. Wird eine der zwei Frauen und drei Männer krank oder altert, verschwinden sie und ein Kind gleichen Namens und gleichen Aussehens kommt in die Stadt. Bis eine der ›Ewigen‹ diesen Zyklus durchbrechen will.
Ein bekannter Ort. Berlin. Die Museumsinsel. Aber doch ganz anders. In dem dystopischen Roman von Anne Reinecke ist die Welt eine andere, denn sie wurde geflutet. Ausgerechnet eine Mauer ist es, die Berlin vor den Wassermassen schützt, welche Ironie. Und in der Stadt nur fünf Menschen, zwei Frauen und drei Männer. Auf ewig die gleichen, denn diese fünf Ewigen werden nach einigen Zyklen nach und nach durch Kinder ersetzt, die dann wieder ihre Position einnehmen. Bis einige von ihnen beschließen, auszubrechen. Aus Berlin. Aus dem ewigen Kreislauf.
Es sind vertraute Orte, auf denen die fünf Ewigen im Roman wandeln. Ich habe diese Orte schon selbst besucht, den Pergamonaltar und das Ishtar-Tor. Und doch verbirgt sich hinter diesen anscheinend bekannten Orten eine zweite Bedeutungsebene, ein Vexierbild, dessen Bedeutung sich beim Lesen kaum erschließt, uns aber auf traumwandelnde Pfade entführt. Vieles bleibt unklar und verschwommen, Figuren wie die Übersetzer rätselhaft und im Dunst. Aber die Atmosphäre verzaubert mich dennoch, auch ohne dass ich die Essenz begreife. Motive jedenfalls wie die ewige Wiederholung oder die Flucht aus der ummauerten Stadt, Rückblicke lassen mich den Roman zumindest ansatzweise erfassen.
Eine flirrende Geschichte, die sich dem vollständigen Verständnis entzieht, aber dennoch fasziniert.
Eine hoffnungsvolle und literarische Dystopie
Kwinsu aus Salzburg am 25.01.2025
Bewertungsnummer: 2395124
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Lola ist eine der fünf "Ewigen", die hinter gigantischen Mauern in den Resten Berlins lebt. Die Stadt wurde durch eine riesige Flutkatastrophe zerstört, hinter den Mauern soll ein riesiger Ozean liegen. Täglich werden die fünf von außen mit Lebensmittelspenden versorgt, ansonsten sind sie auf sich allein gestellt. Im Winter fristen sie ihr Leben in der fünffachen Einsamkeit, im Sommer erhalten sie Besuch von den Fremden, die sie als Götter bzw. Göttinnen verehren. Alles folgt einem strickt vorgesehenem Ritual, alles wiederholt sich, alles ist stets gleich. Bis sich Lola Gedanken macht, ob es hinter der Mauer tatsächlich einen Ozean gibt...
Mit "Hinter den Mauern der Ozean" hat Anne Reinecke einen großartig atmosphärischen Roman geschaffen, eine Dystopie, die nicht ohne Hoffnung ist. Die Beziehungen der fünf Ewigen zeichnen sich gleichzeitig durch Liebe und Hass zueinander aus, in der sich Misstrauen und Vertrauen die Waage halten. Wenig wird hinterfragt, vieles so hingenommen wie es ist, der Glaube an den Fortbestand des Status Quo hält die kleine Gemeinschaft aufrecht. Nur die Ewigen scheinen eine Persönlichkeit zu haben, die Fremden mit ihrem umfangreichen Unterstützungsapparat scheinen farblose Marionetten zu sein. Sprachlich liefert Reinecke eine literarisch hochwertige Atmosphäre, die von den Gefühlen der Protagonistinnen getragen sind. Bildgewaltig sind die beschriebenen Szenen, sie brennen sich ins Gedächtnis wie tatsächlich Erlebtes.
Ein besonderes Element, das in die Geschichte eingewoben wird, ist die Tatsache, dass die Ewigen nicht tatsächlich unsterblich sind, sondern nach Abfristen ihrer Lebensspanne durch sich selbst ersetzt werden - ein jüngeres Ich ihrer selbst taucht auf und sie haben noch ein wenig Zeit miteinander, um voneinander zu lernen. Schnell zeigt sich, dass das Auftauchen des neuen Ichs den zu Scheidenden in helle Panik versetzt. Es entsteht eine Dynamik des Verzweifelns, die die Spannung hoch hält. Beim Lesen des Textes keimen enorm viele Fragen auf, welche aber unbeantwortet bleiben. Das kann in vielen Fällen einen schalen Nachgeschmack hinterlassen, nicht aber so in diesem Roman - hier ist es den Lesenden auf geschickte Art und Weise überlassen, Erklärungen für das Ungesagte zu finden. Denn das kann das Buch hervorragend: zum Nachdenken, Philosophieren und Kritisieren der Welt anregen.
Mein Fazit: "Hinter den Mauern der Ozean" ist eine bildgewaltige Dystopie, die mit einer wunderbaren, literarischen Sprache punktet und viel zum Nachdenken anregt. Der Roman selbst liefert nicht viele Antworten, bietet nur eine geschickte Vorlage, um selbst solche zu finden. Eine absolute Leseempfehlung für alle, die gerne unkonventionelles und philosophisches lesen.