Alexandra Kollontai (1872-1952): Ein Mädchen aus gutem Hause zieht es in den Untergrund von St. Petersburg, wo Ende des 19. Jahrhunderts die Revolution gärt. Als Sozialistin will sie die Gesellschaft verändern, die Frauen befreien. Im Exil erlebt sie mit, wie ihre politischen Freunde den Ersten Weltkrieg bejahen. Die russische Revolution holt sie nach Petrograd zurück. Hier wird Kollontai Mitglied im ersten Kabinett Lenin und erste Botschafterin der modernen Welt, stets im Widerstreit zwischen gesellschaftlichem Idealismus und politischer Realität. Bis heute gelten ihre Werke als feministische Pflichtlektüre.
Wolfgang Neubacher aus 5203 Köstendorf am 15.12.2024
Bewertungsnummer: 2364420
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
"Fahren Sie sofort los" ist die Biografie einer mehr als nur bemerkenswerten Frau.
Alexandras Mutter musste einen (ungeliebten) Mann heiraten; nach der Scheidung von ihm ehelichte sie ihre Jugendliebe (der auch der Vater von Alexandra wurde).
Die Verhältnisse im Russland im ausgehenden 19. Jahrhunderts waren katastrophal: Die wirtschaftliche Lage war sehr schlecht; die zaristische Geheimpolizei war allmächtig; viele (kritische) Menschen landeten in Sibirien; "wer etwas ändern wollte, setzte sein Leben aufs Spiel".
Alexandra heiratet - trotz Widerständen - dem Mann, den sie liebt, obwohl er kein Vermögen hat. Im März 1896 soll er - er ist Ingenieur - in Narva, wo sich eine der größten Textilfabriken Russlands befindet, in dieser ein neues Heizungs- und Lüftungssystem einbauen. Bei einer Fabriksbesichtigung entdeckt Alexandra die schlimmen Zustände in dieser Fabrik.
Dies veranlasst sie, in den "Untergrund" zu gehen. Sie arbeitet in einem "Wandermuseum für Lern- und Lehrmittel". Hier arbeiten Personen mit, die die gesellschaftlichen Zustände in Russland verändern wollen, "darüber aber nicht sprechen durften und sich hinter einer scheinbar harmlosen Bildungsinstitution verbargen".
Die 2 Revolutionäre Plechanow und Lenin werden auf sie aufmerksam; damit beginnt ihr Aufstieg in der bolschewistischen Hierarchie.
Die Frauenfrage ist ihr zeitlebens ein besonderes Anliegen; weniger allerdings so manchem ihrer Genossen. Sie reist sehr viel, hält viele Reden und Vorträge.
Obwohl sie eines Tages verhaftet wird, wählen die Bolschewiki sie in das Zentralkomitee. Die Partei wird allerdings immer dogmatischer; Kritiker werden an den Rand gedrängt, ihrer Posten enthoben, viele aus der Partei ausgeschlossen. Dies betrifft auch Alexandra, daher geht sie als Handelsbeauftragte nach Norwegen sozusagen in die Verbannung (Lenin hatte sie vorher aus der Partei vertrieben).
Ihr außerordentliches Talent der Anpassung an wechselnde Lebenslagen lässt sie sogar den Terror des Stalinismus überleben. Sie stirbt 1952, körperlich schon ziemlich beeinträchtigt, in Moskau an einem Herzinfarkt.
Alexandra Kollontai kämpfte ein Leben lang für die Befreiung und die Rechte der Frauen - und opferte dafür letztlich ihr Privatleben. Dass die russische Revolution in eine Richtung ging, die sie nicht wollte, ist ihre große Tragik.
Einziger Kritikpunkt meinerseits: Das Buch wäre noch leichte lesbar gewesen, wenn die Autorinnen mehr Jahreszahlen zur Orientierung verwendet hätten.
Trotzdem 5 Sterne und heftigste Leseempfehlung für ein Buch über eine bemerkenswerte Frau. Außerdem erfährt der Leser sehr viel über die russische Geschichte vor und nach 1917-
Biografie einer kontroversiellen Person
Gertie G. aus Wien am 18.10.2024
Bewertungsnummer: 2319239
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
„Fahren Sie sofort los!“ Diese Worte wird Alexandra Kollontai (1872-1952) mehrmals in ihrem Leben hören, wenn ih die Verhaftung droht.
Zunächst wächst sie als Alexandra Michailowna Domontowitsch, Tochter eines russischen General ukrainischer Abstammung und einer finnischen Mutter, umgeben von zahlreichen Bediensteten in Sankt Petersburg auf. Das altkluge, wissbegierige Mädchen wird, wie damals üblich, von Hauslehrern unterrichtet. Sie erlebt das tödliche Attentat auf Zar Alexander II. (1881) durch die Narodnaja Wolja sowie die anschließenden Hinrichtungen der Attentäter, darunter Alexander Uljanow, Lenins Bruder, und Sofja Perowskaja.
Recht bald kommt sie mit dem revolutionären Gedanken in Kontakt und beschließt, als Sozialistin die Welt, und da vor allem das Los der Frauen, verändern zu wollen. Sie lässt Mann und Kind zurück und geht nach Zürich, um Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Wenig später muss sie aus Russland fliehen, weil ihr auf Grund ihrer Schriften und ihres Engagement für den Sozialismus und die Gleichberechtigung für die Frauen die Verhaftung droht. Nach mehreren Stationen in Deutschland und Frankreich landet sie in Skandinavien. Den Beginn des Ersten Weltkriegs und die Kriegsbegeisterung auch zahlreicher ihrer Freunde erlebt sie in Deutschland, wo sie als „feindliche Ausländerin“ interniert und dann nach Dänemark abgeschoben wird.
Obwohl sie bis 1915 den Menschewiki angehört, wechselt sie zu den Bolschewiki, kehrt 1917 nach Russland zurück, schließt sich den Revolutionären an. Wieder droht die Verhaftung, der sie nur knapp entgeht. Wenig später siegen die Bolschewiki unter Lenin und Kollontai wird im November 1917 Volkskommissarin (= Ministerin) für soziale Fürsorge. Damit ist sie Europas erste Ministerin.
Das Auf und Ab ihrer politischen Karriere setzt sich fort. Die spätere Annäherung an den Stalinismus schadet ihrem Ansehen im Ausland. Trotzdem ist sie als Botschafterin der UdSSR in Norwegen und Schweden.
Alexandra Kollontai lebte weitgehend selbstbestimmt und war mit ihren Ansichten und Forderungen ihrer Zeit weit voraus.
Bis heute gilt Alexendra Kollontai als einflussreiche Vorkämpferin für Frauenrechte und Vordenkerin für freie Liebe.
Ihre oft fundamentalistischen Ansichten bezüglich der Kollektivierung der Landwirtschaft und die Entlassung bzw. den Parteiausschluss von Personen, die nicht aus der Arbeiterklasse stammen, machen sie allerdings zu kontroversen Persönlichkeit.
Meine Meinung:
Das Autorenduo Barbara Sichtermann und Ingo Rose hat eine interessante Roman-Biografie über Alexandra Kollontau verfasst. Die Autoren beleuchten den Lebenslauf der Tochter aus gutem Hause und ihre Verwandlung zur Vorkämpferin für Frauenrechte.
Zahlreiche Auszüge aus Briefen, Zeitungsartikeln und Schriften der Kollontai geben gemeinsam mit einigen Fotos ein
beredtes Zeugnis der Verfechterin des Sozialismus ab. Die Hinwendung zum Stalinismus lässt sie allerdings in einem kontroversen Licht erscheinen.
Fazit:
Gerne gebe ich dieser differenzierten Biografie der russischen Vorkämpferin für soziale Gerechtigkeit und Frauenemanzipation 5 Sterne.