»Dies ist die Geschichte meiner Kindheit und meines Kriegs.«
Als im April 1992 der Krieg beginnt, ist Tijan Sila nur zehn Jahre alt, doch bis heute kann er sich an den Geruch von gezündetem Sprengstoff erinnern. Während Sarajevo in Flammen steht, wird aus dem Jungen, der er damals war, ein junger Mann. Er streift durch die Ruinen der ausgebombten Stadt und sammelt Dinge, die von den Geflohenen und Gestorbenen zurückgeblieben sind, um sie auf dem Schwarzmarkt gegen Essen zu tauschen. Er lernt zu überleben, und er akzeptiert die grausame neue Normalität, doch zu welchem Preis?
Seine Geschichte ist eine Geschichte des Unerwarteten. Sie erzählt davon, wie Dichter zu Mördern werden und Mörder zu Helden. Sie erzählt von Menschen, denen jede Menschlichkeit jäh genommen wurde, und von den Spreisseln, die der Krieg im Hirn jedes Überlebenden hinterlässt.
Eins der wertvollsten Bücher, die ich je gelesen habe, denn es ist persönlich, einnehmend und berührend geschrieben. Wer es liest, wird Nachrichten mit weit geöffneten Augen verfolgen.
Tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Bosnienkrieg
Bewertung am 21.09.2023
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Tijan Silas „Radio Sarajevo“ habe ich sehr ungeduldig erwartet, da ich schon den Vorgänger „Krach“ sehr mochte. „Radio Sarajevo“ ist allerdings deutlich persönlicher und ernsthafter: Auf 176 Seiten schreibt Sila über das Aufwachsen im Bosnienkrieg zwischen Comics und Bombardements, über die Gleichzeitigkeit von elterlicher Selbstaufopferung und körperlicher Züchtigung und über die Wirkung von Musik.
„Radio Sarajevo“ ist kein reißerisches Buch. Es belehrt nicht über moralische Appelle und es weckt kein Mitleid, sondern wirkt subtil und unmittelbar. Scheinbar nüchtern schildert Sila einzelne, oft heftige Erlebnisse, baut bissigen Humor auf und lässt einem dann das Lachen gefrieren, wenn deutlich wird, wie normal diese Ereignisse im Kriegszustand sind, wie normal es ist, dass Menschen durch Krieg zerbrechen. Die Blauhelmsoldaten, die den Kindern Süßigkeiten im Tausch gegen Pornografie geben, der prügelnde Lehrer, der wenigstens einmal bei einem Streich sein Fett weg bekommt und die prekäre Solidarität der Nachbar*innen stehen nebeneinander und bleiben im Gedächtnis.
Die kindliche Perpektive, die sich durch den Blick des zehnjährigen Tila ergibt, führt nicht zur plumpen Emotionalisierung. Sie verdeutlicht die vielen Paradoxien und Widersprüche im Krieg.Durch den Humor kommt „Radio Sarajevo“ scheinbar leicht daher und lässt sich zügig lesen.Gleichzeitig entsteht eine gewisse Distanz, die verhindert, dass das Publikum sich bequem aufs Mitleid zurückziehen kann. Zwar überlässt Sila die moralische Wertung den Leser*innen, macht aber klar, dass man sich vor vorschnellen Urteilen hüten sollte. Erst recht, wenn man selbst den Luxus hatte, im Frieden aufzuwachsen. Denn er nimmt dem Publikum jede Illusion, die Handlungen der Personen im Buch so einfach be- oder verurteilen zu können. Man kann sich in die Erlebnisse als Außenstehende*r schlicht nicht hineinversetzen. Und diese Bewusstwerdung führt bei „Radio Sarajevo“ nicht bloß zu trauriger Betroffenheit, sondern zwingt zur Reflexion der eigenen Position und Verantwortung. Bei mir hat das Buch Wut ausgelöst. Denn nach dem Lesen sind die vielen rassistischen und verachtenden Zeitungsartikel der Nullerjahre, die die faktisch sich selbst überlassenen Geflüchteten aus Ex-Jugoslawien als unsauber darstellen, noch verachtenswerter. So schwer das Buch an vielen Stellen zu ertragen sein mag: Es ist unbedingt lesenswert.