Asmaa ist die Tochter einer Beduinenfamilie, die seit Jahrzehnten im Flu¿chtlingslager in Gaza lebt. Das selbstbewusste, rebellische und bisweilen zornige Mädchen sucht stets Schlupflöcher, um der konservativen Gesellschaftsordnung zu entkommen und im Geheimen ein wenig frei zu sein. Als Achtzehnjährige beschliesst sie, dieses patriarchalische und politische Gefängnis zu verlassen, und gelangt mit der Hilfe eines spanischen Fotografen nach Barcelona. Doch bald muss sie wieder ausbrechen, um nicht erneut in die Abhängigkeit von einem Mann zu geraten. Ihre Reise endet in Frankreich, wo sie sich langsam ein neues, eigenständiges Leben aufbaut.
Asmaa al-Atawna entzieht sich bewusst den Stereotypen des Nahostkonflikts, der den Hintergrund ihrer Geschichte bildet. Vielmehr erzählt sie in dieser mutigen Autofiktion mit erfrischender Vitalität, mit Humor und ohne Pathos von ihrem persönlichen Kampf fu¿r die Freiheit.
Asmaa al Atawnas Debütroman ist der Bericht einer Rebellion, einer Sehnsucht nach Ausbruch, nach Bruch mit den Regeln ihrer patriarcharlischen Gesellschaft, nach Freiheit, nach dem eigenen Ich.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der Weg hinaus und das Leben dort. Beides in Ich-Form geschrieben. Es ist flüssig zu lesen, in schnörkellosem Stil, fast ein bisschen „schulaufsatz-mäßig“.
Als Tochter einer palästinensischen Mischfamilie, Beduinen und wohlhabende Bauern, bricht sie schon früh die Spielregeln ihrer Gesellschaft. Sie ist aufsässig und rebellisch. Aber ihr Gefühl des Eingesperrtseins ist nicht nur den gesellschaftlichen Riten geschuldet, sondern potenziert sich dadurch, dass sie im Gaza-Streifen aufgewachsen ist, unter israelischer Besatzung, ohne die Freiheit des Kommens und Gehens nach eigenem Belieben.
Anschaulich schildert sie ihr Viertel, das sog. „Schwarze Viertel,“ weil das Flüchtlingslager an das Viertel der „Schwarzen“ (ehemaligen Sklaven) grenzte, ein Labyrinth für jeden Fremden. Angesprochen wird der inner-palästinensische Rassismus: Ausgrenzung und Verachtung gegenüber dunkelhäutigen, schwarzen Menschen.
Plastisch und lebendig erleben wir den Alltag mit seinen fest gefahrenen Strukturen und seiner sozialen Kontrolle, Namen bekommen ein menschliches Antlitz: die Großeltern und Geschwister, die Nachbarn. Die Brüder Râmi und Abdallah.
In der Schule Streiche und körperliche Züchtigung. Aber die kannte sie von zu Hause: die Mutter benutzte ein schmales Bambusrohr oder einen Schlauch, der Großvater einen Gehstock, der Vater einen Ledergürtel.
Sie schrieb sich mit 18 Jahren an der neuen Al Fatah-Universität ein und lebte bei ihrer verheirateten Schwester Amal. Sie fühlte sich zum ersten Mal frei in Gaza, die Intifada war zu Ende, das Oslo-Abkommen in Kraft und Vaters Wut war weit entfernt. Sie vertiefte sich in Romane, entdeckte andere Schicksale, fühlte sich dadurch nicht mehr allein.
Da sie wegen unbotmäßigen Verhaltens von der Uni verwiesen wurde, suchte und fand sie Arbeit: als Reporterin bei einer Nachrichtenagentur. Sie schrieb über die Bewohner der überfüllten Lager, über Besatzung und Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität und die naiv-bevormundende UNRWA: „sie behandelt uns wegen Kopfschmerzen, obwohl wir eigentlich Krebs haben.“
Durch Zufall hatte sie in der Zeitung vom Märtyrertod Abdallahs gelesen und die triste Begegnung mit Râmi auf dem Friedhof ließen Trauer, Kummer und Wut in ihr aufsteigen.
Es war Zeit zu gehen, zu fliehen, der Hölle zu entrinnen. „An einen ruhigeren und grüneren Ort.“
Wir lesen, wie sich Aufsässigkeit und Anderssein entwickelt und artikuliert: gegen die Unmündigkeit in einer patriarchalischen Gesellschaft, gegen die Strangulierung des eigenen Ichs. Vielleicht hatte Asmaa schon das Gen der Rebellion durch ihre Geburt in sich: fast erstickt durch die Nabelschnur, der Fluch des Vaters, dass sie nicht der ersehnte Stammhalter war. Vielleicht spielte ihr hier das Unterbewusste einen Streich: sich Freiheiten wie ein Junge nehmen zu wollen. Ganz wichtig ist ihr zu betonen, dass es ihr primär um die persönliche Freiheit ging. Die politische Unfreiheit war nicht unbeteiligt an dem Gefühl der Enge, war aber nicht der ausschlaggebende Punkt ihres Ausbruchs. Gewiss gilt dieser Wunsch nach Ausbruch auch für junge Männer. Denn auch sie unterliegen den ungeschriebenen sozialen Gesetzen ihres Umfeldes.
Sie wollte nicht als Widerstandskämpferin abgestempelt werden, sondern sie wollte nur wie Virginia Woolf: A Room of One’s Own. Und dieser ganz eigene Raum, im architektonischen wie im seelischen Sinn, ist wohl die Essenz dieses Buches und vielleicht auch ein Lösungspunkt: sich der familiären und sozialen Kontrolle entziehen zu können. Um frei zu atmen, Kraft zu schöpfen, tagträumerisch an die Decke zu starren oder aus dem Fensterchen zu schauen, ungestört zu lesen und zu denken, Tagebuch zu schreiben……
in Gaza groß geworden
Bewertung aus Mölln am 08.12.2021
Bewertet: Buch (Taschenbuch)
Das Buch beschreibt in lebendiger Form die Jugend eines Mädchens und jungen Frau aus Gaza, die in einer Familie heranwächst, die Opfer der Vertreibungen aus Palästina ist. Es läßt nachvollziehen was es bedeutet als Frau, Flüchtling in einer muslimischen Familie mit allen Vorstellungen von Tradition und Ehre groß zu werden. Es beschreibt die Entwicklung der Gewalt auf zwei Seiten und die vielen Arten der Aussichtslosigkeit. Ein positives Ende gibt es hier nur für die Einzelne.