»Erst ungläubig und dann staunend verfolgt man dieses moderne Glaubensbekenntnis. Tobias Haberl erzählt so pur von seinen Zweifeln und Wegen zu Gott, dass man danach ganz anders in den Himmel schaut.« Florian Illies
Ich bin katholisch. In meiner Kindheit war das eine Selbstverständlichkeit. Heute muss ich mich dafür rechtfertigen, ja manchmal komme ich mir vor wie ein Tier, das im Zoo angegafft wird: Wie kann man im 21. Jahrhundert an Gott glauben? Und wie kann man immer noch in der Kirche sein – nach allem, was ans Licht gekommen ist? Es ist tatsächlich so, dass ich in meinem Viertel (gentrifiziert), meiner Branche (Medien) und meinem Job (linksliberale Zeitung) von Menschen umringt bin, die, wenn es um den Glauben geht, oft nur noch an Missbrauch und Vertuschung denken.
Leider haben viele von ihnen keine Ahnung davon, was das bedeutet: Christ sein. Sie kritisieren etwas, das sie nie kennen gelernt haben, und vergessen, worauf es ankommt: den Halt, den Trost, die Hoffnung. Glaube ist mehr als Schlagwörter (Zölibat, Missbrauch, Frauenpriestertum), mehr als eine Kirche, mit der ich auch hadere, auch mehr als eine Auszeit vom stressigen Alltag. Gläubige Menschen suchen keine Befriedigung, sondern Erlösung, nicht zuletzt von einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint, zerrissen zwischen Zukunftsängsten und (gespenstischen) technologischen Visionen.
Ständig wird gefordert, dass sich die Kirche verändern muss, um im 21. Jahrhundert anzukommen. Ich drehe die Frage um: Was kann das 21. Jahrhundert eigentlich von gläubigen Menschen lernen? Welche vermeintlich aus der Zeit gefallenen Rituale können die spätmoderne Gesellschaft von ihrer Atemlosigkeit erlösen? Denn eines ist offensichtlich: Der Mensch, der sich von Gott verabschiedet hat, findet nicht, was er sucht. Die grosse Freiheit stellt sich nicht ein. Stattdessen: neue Zwänge, neue Ängste, Ablenkung statt Trost, weil Google jede Frage beantworten kann, nur nicht die, wozu wir leben und was uns Halt gibt. Im Moment sind viele verunsichert, suchen Orientierung, etwas, woran sie sich festhalten können, aber: da ist nichts.
Ich bin ein mittelmässiger Christ, ganz sicher sind viele, die nicht an Gott glauben, bessere Menschen als ich. Aber ich versuche jeden Tag mit grosser Ernsthaftigkeit, Gott zu gefallen – es gelingt halt nicht immer. Und deshalb erzählt dieses Buch davon, wie der Glaube mein Leben nicht nur verschönert, sondern vertieft, wie ich ein „zeitgemässes Leben“ mit einem vermeintlich „unzeitgemässen Glauben“ verbinde, weil Freiheit eine grandiose Sache ist, man aber schon eine Idee haben sollte, was man mit ihr anstellen will. Ich glaube, dass der moderne Mensch darunter leidet, dass er seinen Glauben verloren hat, ohne dass er es merkt. Ich glaube, dass sein Glück in falschen Dingen und an falschen Orten sucht. Ich glaube, dass er Sehnsucht nach etwas hat, das er sich nicht erklären kann. Was das sein könnte, steht in diesem Buch.
Haberl bringt es auf den Punkt: Die Schätze des christlichen Glaubens erschließen sich nur dem, der sich darauf einlässt. Ermutigend, ehrlich, authentisch. Ich markiere immer wichtige Stellen in Büchern, hier würde ich am liebsten das komplette Buch markieren. Leseempfehlung für alle Christen, die sich auch wie Aliens in einer nichtchristlichen Gesellschaft fühlen. Und für alle Nichtchristen, die unseren Glauben wenigstens verstehen wollen. (Das sind leider nicht viele.)
Mehr Bekenntnisse als Erkenntnisse
Bewertung am 10.03.2025
Bewertungsnummer: 2434145
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Tobias Haberl wurde 1975 im Bayrischen Wald geboren, hat Literaturwissenschaften studiert und arbeitet als Autor bei der Süddeutschen Zeitung Magazin. Den Reporterpreis erhielt er 2023 auf sein Essay „Unter Heiden“, auf dem das vorliegende Buch basiert. Zur Wahl des Buchtitels sagt Haberl, das Buch müsste eigentlich „Unter Ungläubigen“ heissen. Griffiger klinge jedoch „Unter Heiden“ - womit Menschen gemeint sind, die mit dem lieben Gott nichts zu tun haben wollen (vgl. S. 38).
Wie kam Haberl zu seinem Glauben?
Er sei nie Meßdiener gewesen (S. 29), ebensowenig begeisterter Kirchgänger (S. 106). Sein Vater sei ein frommer Mensch. Seine Mutter - so vermutet er - glaube an Gott (vgl. S. 54). Für Ihn wäre der Glaube immer da gewesen, liefe nebenher wie Hintergrundmusik (S. 57). So sagt er von sich selbst etwas flapsig, ins Christentum „hineinmanipuliert“ worden zu sein (vgl. S. 59). Er habe nur zu Gott gefunden, weil ihm seine Eltern diesen Glauben vorgelebt hätten (S. 131). Dass der Glaube, wie von Haberl aufgezeigt, zum großen Teil auf sozialer Prägung beruht (Fink 2013, vgl. S. 164), verträgt sich nicht schlüssig mit der Annahme Haberls, man könne sich auf Gott „einlassen“, ihm vertrauen, auch wenn man ihn nicht belegen könne (vgl. S. 260).
Zu seinen eindrücklichsten Glaubeserfahrungen zählt die Alte Messe, in der Chiesa della Santissima Trinità del Pelligrini in Rom (S. 116). Es handelt sich um die Messfeier im Römischen Ritus, eine Tradition, die bis in die Anfänge der römischen Kirche zurückreiche, bevor sie durch die Liturgieform des Zweiten Vatikanischen Konzils „verschandelt“ worden sei (S. 117). Was ihn anzog war die übernatürliche Atmosphäre, der viele Weihrauch, die prächtigen Gewänder, der Gregorianische Choral (S. 118). Genau die Hervorhebung dieser vordergründigen Punkte spricht auch David Berger (ein ehemaliger Theologe und Insider der katholischen Kirche) an, „das tue keinem weh und komme in Zeiten postmoderner Freude an allem Esoterischen gut an (Berger 2014, vgl. S. 50 f.).“ Was Haberl dort sah und hörte, wäre von einer rätselhaften Heiligkeit durchdrungen gewesen, die den gesamten Kirchenraum und alle Menschen darin zu erfassen und aneinanderzubinden schien (S. 119). Die Messe sei nüchtern und unpersönlich, die Priester ständen praktisch umgehend mit dem Rücken zur Gemeinde (vgl. S. 120). Für Haberl sei das Heilige in der Messe selbstverständlich anwesend. Das Geheimnis der Faszination der Alte Messe läge darin, das Gegenteil der Lebenswirklichkeit des frühen 21. Jahrhunderts zu sein: Anbetung statt Ablenkung, Unterwerfung statt Selbsterhöhung, runter auf die Knie statt Brust raus (vgl. S. 121)! Während man auf Instagram aktiv auf sich aufmerksam machen müsse, um überhaupt wahrgenommen zu werden, genüge es in einem Gottesdienst, einfach nur da zu sein (vgl. S. 155).
Haberl erschließt sich jedoch nicht, warum die alte Messe so aggressiv bekämpft würde, dass viele sogar ihr Verbot fordern würden (S. 133). Haberl wusste aus einem Artikel in der Zeit um die Vorbehalte gegen die Messe - sie schmuggle altes, autoritäres Gedankengut in die Kirche der Neuzeit (S. 219). Tiefer drang er in die Vorbehalte jedoch nicht ein. Etwas erhellender klärt dagegen Berger darüber auf, dass für zahlreiche junge Leute die traditionelle Liturgie eine Art „Einstiegsdroge“ gewesen sei. Die Welt, in die sie dabei gerieten, mache aus unverbildeten und aufgeschossenen Menschen Religionsfanatiker, die einem katholischen Gottesstaat das Wort redeten. Für dessen Entstehung müsse man notfalls Gewalt anwenden. Sie scheuten sich auch nicht mit rechtsradikalen Schlägertrupps Allianzen einzugehen (Quelle: Berger 2014, vgl. S. 54). Die Alte Messe sei das exakte Spiegelbild einer hierarchisch strukturierten, absolutistisch regierten Kirche (Berger 2014, vgl. S. 29 f.).
Die Alten Messe vergleicht Haberl mit der Neuen Messe:
Er berichtet von Deutschlands berühmtesten Pfarrer Rainer Maria Schießler aus der Kirche Sankt Maximilian in München (S. 119). Schießler halte warmherzig-unterhaltsame Predigten (S. 119) und lebe zölibatär mit seiner Haushälterin Gunda zusammen, was er sich nicht verbieten lasse, da er sie lieb habe (S. 126). Schießler sei charmant, unangepasst, widerspenstig - ein Rebell innerhalb des Systems (S. 127). Auch Lachen und Klatschen sei in seiner Kirche erlaubt, dafür tue er alles (vgl. S. 129). Haberl findet es bedauerlich, wie unversöhnlich sich die Anhänger der Alten und Neuen Messe gegenüberstehen würden - links die Reformer, rechts die Traditionalisten, links die strahlende Zukunft, rechts die finstere Vergangenheit, und alle würden denken, besser und wahrer als die jeweils anderen zu glauben (S. 132 f.).
Eine weitere Station seines Glaubenslebens ist ein kostenloser Besuch im Benediktinerkloster Sainte-Madeleine du Barroux (S. 188), in dem er nicht zur Ruhe kommen, sondern Gott suchen wollte (S. 192). Er berichtet von nächtlichen Stillschweigen, den Mahlzeiten „en silence“, fünf bis sechs Stunden täglichem Gebet (S. 194). Die Stille sei die Voraussetzung, Gottes Gegenwart überhaupt wahrzunehmen (S. 197). Wer im Kloster über WLAN online gehen wolle, brauche eine Erlaubnis des Abtes (S. 201). Einerseits sehnte er sich nach Ruhe und Abgeschiedenheit, um Gott näher zu kommen, andererseits schleppte er sich von Stunde zu Stunde - von Gott keine Spur, nur Stille und Steine (S. 204). Dann erwischte ihn der Lagerkoller! Er fühlte sich abgeschnitten und ausgeliefert (S. 206). Darauf brachte ihn Pater Hugo auf die Idee, einen Ausflug zu machen, da man Gott nicht nur im Kloster begegnen könne (S. 207). Das extreme Leben der Mönche (Genügsamkeit, Beten, Kontemplation, Fasten, Ordnung und Regeln) münde in einem Loslassen vom eigenen Ego (vgl. S. 213). Dem Klosterbesuch schloss sich ein Interview mit einem Mönch an (S. 219-226).
Wie so viele Christen glaubt Haberl an Gott, weil er die Gewissheit, unter allen Umständen gerettet zu sein, weil Jesus Christus für ihn gestorben und auferstanden sei, als großen Trost empfinde (S. 112). Uwe Lehnert bezeichnet den Opfertod Jesu als abwegig, da Jesus zwar Mensch ist, aber nach der Dreieinigkeitslehre eben auch mit Gott identisch ist (Lehnert 2015, S. 298), womit er einen Teil seines Selbst sich selbst opfert (Lehnert 2015, S. 300). Haberl schreibt dazu, die Dreifaltigkeit Gottes stünde nicht zur Debatte (vgl. S. 246). An diesem Beispiel sieht man exemplarisch, dass Haberl - wie viele Christen - diese Glaubenslehre einfach undurchdacht übernommen hat.
Laut Haberl wäre der Beweis misslungen, der Glaube von Wissenschaftlern würde im Laufe der Zeit und mit zunehmendem Wissen abnehmen. Er versucht dies am Beispiel des renommiertesten Teilchenphysikers der Welt, John Polkinghorne zu veranschaulichen, der sich zum anglikanischen Pfarrer weihen liess (S. 268). Hier lässt sich einwerfen, dass herausragende Wissenschaftler deutlich weniger religiös sind. In den USA erweisen sich heute knapp zwei Drittel aller Elitewissenschaftler als Atheisten und Agnostiker (Mahner 2018, S. 182).
Welche Haltung nimmt Haberl gegenüber Ungläubigen/Atheisten ein?
Er stellt sich die Frage, ob Hinidus oder Atheisten das Heil erlangen könnten. Darüber hinaus fragt er sich, wie es mit Menschen stehe, die gut und gerecht, aber nicht in der Kirche seien? Auf all diese Fragen habe er keine Antwort (S. 242). Alle Beweise der bedeutenden Atheisten würden nicht ausreichen, um die Existenz Gottes fragwürdig zu machen, aber nicht, um Gottes Nicht-Existenz fraglos zu machen. Letztlich sei auch der Atheismus nicht beweisbar (S. 266). Mein Einwand dazu lautet: Es gibt hier keine Patt-Stellung. Nichtexistenz ist generell nich beweisbar. Allerdings hat, wenn eine Nichtexistenz nicht erweisbar oder eine Exitenzbehauptung nicht widerlegbar ist, der Gläubige die „Beweispflicht“ (Fink 2013, vgl. S. 168)!